Ganz konkret

Noch zwei Anmerkungen zu Oliver Sacks, einem Neurologen, der über sein Fach hinausgeblickt hat, aber vielleicht nicht weit genug. Die Neurologen versuche, das Gehirn zu »kartieren« nach Art von Google Maps, doch das klappt nicht richtig. Sacks hat die Visionen der Hildegard von Bingen ihrer Migräne zugeschrieben; hilft uns das weiter? 

IMG_3833Nein, das ist nur eine Beschreibungsebene. Auf einer anderen wird das Erlebnis geistig verarbeitet und mit Bedeutung versehen. Diese beiden Ebenen können nicht zusammenkommen, und Oliver Sacks schreibt auch:

Es klafft also eine Lücke, ja ein Abgrund, zwischen dem, was wir von unseren Patienten lernen, und dem, was die Physiologen uns sagen. Lässt sich dieser Abgrund überbrücken?

Er findet eine Antwort:

Die persönlichen Muster für das Individuum müssten die Form von Drehbüchern oder Partituren haben … Daher müssen wir uns über der Ebene zerebraler Programme eine Ebene zerebraler Drehbücher und Partituren vorstellen.

Bei einem Film wird man auch nicht den Regisseur fragen, wie er auf diesen Einfall kam … Hatte er vielleicht etwas Ungewöhnliches zum Frühstück? Es funktioniert, das muss genügen. Eine »physiologische« Erklärung ist ja schön und gut, doch sie hängt in der Luft. Sie befriedigt nur den Wissenschaftler, der beruhigt ist, dass er wieder mal etwas erklären konnte. Die höhere Ebene ist interessanter: Was macht jemand aus einer Erfahrung? Wie beeinflusst sie sein Leben?

Die ewigen Erklärungen. Bleibt alles an der Oberfläche. Doch so ist die Welt heute. Und Bemerkungen von Sacks veranlassten mich zu einem etwas bösen Gedanken. Er fragte sich:

IMG_3089Was also ist die geistige Eigenschaft, diese Disposition, die die Einfältigen kennzeichnet und ihnen jene rührende Unschuld, Transparenz, Vollständigkeit und Würde verleiht … Wenn wir diese Eigenschaft mit enem einzigen Wort umreißen wollen, so müsste dieses Wort »Konkretheit« lauten – ihre Welt ist bunt, vielfältig und intensiv, und zwar gerade, weil sie konkret ist; sie ist weder kompliziert noch gedämpft, noch durch Abstraktion vereinheitlicht. 

Trifft das nicht auf die heutige Welt im Westen zu? (Das ist mein böser Gedanke.) Man hat sich von Abstraktionen abgekehrt und philosophiert übers Konkrete, und du erfährst, was du essen und wie du es essen sollst, wieviel Schritte zu gehen sind und welche Vitamine hilfreich. Die Konsumwelt mit ihrem Trend zur Verdinglichung wird, das steckt in ihr, einfach und ganz konkret. Sacks:

Als Ärzte, Therapeuten, Lehrer und Wissenschaftler sind wir aufgefordert, ja geradezu gezwungen, das Konkrete zu erforschen. … Die klassische Wissenschaft hat für das Konkrete keine Verwendung — in der Neurologie und Psychiatrie wird es gleichgesetzt mit dem Trivialen. 

Die Verweigerung des Abstrakten ist natürlich ein Rückschritt. Die Sprache verkümmert, das Denken wird einfacher, von schwierigen Sachen will man nichts wissen, man sieht dumme Filme und liest dumme Bücher, lebt und versucht, das Leben zu genießen, aber echtes Leben ist geistiges Leben, die wahre Realität ist mental. Es ist zwar eine angenehme Verdummung, die wir erleben, aber sie macht auch Sorgen.

 

 

 

 

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