Zahlen, Chiffren und Ikonen

Viele kennen dieses Buch: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Unverwechselbar die Titel der (13) Bücher des englischen Neurologen Oliver Sacks (1933-2015), unverwechselbar seine Geschichten über Gehirn-Anomalien. In dem genannten Buch kommen Zwillinge vor, die blitzschnell sagen konnten, auf welchen Tag etwa der 10. Oktober 2078 fallen würde. Sie »sahen« die Zahlen.

Die Zwillinge John und Michael lernte Sacks 1966 kennen, als sie 26 Jahre alt und wegen ihres »Kalenderrechnens« Berühmtheiten waren. Die letzten 7 Jahre hatten sie allerdings in Heilanstalten verbracht. Der Neurologe schilderte:

IMG_3789Diesmal saßen sie zusammen in einer Ecke, mit einem rätselhaften, heimlichen Lächeln auf ihren Gesichtern … Sie schienen ein seltsames Vergnügen, einen seltsamen Seelenfrieden gefunden zu haben und zu genießen. … Es hatte den Anschein, als seien sie in eine einzigartige, rein numerische Unterhaltung vertieft. John nannte eine Zahl, eine sechsstellige Zahl. Michael griff die Zahl auf, nickte, lächelte und schien sie sich gewissermaßen auf der Zunge zergehen zu lassen. … Von weitem sahen sie aus wie zwei Connaisseurs bei einer Weinprobe, die sich an einem seltenen Geschmack, an erlesenen Genüssen ergötzen. 

DSCN4496Ich kann Zahlen auch viel abgewinnen und »ergötze mich«. Kürzlich saß ich in meiner Bäckerei an einem Tisch, als eine Kundin die Rechnung 11,11 Euro bekam. Da reagierte ich gleich und gratulierte, ein wenig neidisch auch; aber, meinte ich, vielleicht habe meine Anwesenheit dazu geführt, denn ich finde oft Schnapszahlen auf meiner Rechnung, was vielleicht nur heißt, dass mein Geisterteam noch aktiv ist.

Aber was bedeuten Zahlen, was sind sie? Oliver Sacks hat Autoren konsultiert und Vorschläge dazu gemacht.

Sir Thomas Browne schrieb, die Seele sei harmonisch und neige der Musik zu. Richard Wollheim sprach in The Thread of Life von »ikonischen« Bewusstseinszuständen. Man rechne anhand von Bildern (Ikonen) … »gerechnet wird in Zahlen, visualisiert dagegen werden Chiffren, die Zahlen darstellen«. Das Vergnügen, das uns die Musik bereite, meinte der deutsche Philosoph Leibniz, rühre vom unbewussten Zählen. Musik sei nichts als unbewusste Arithmetik.

Noch einmal Sacks über seine beiden Probanden:

Die Zwillinge »übertragen« Zahlen nicht in Musik, sondern können sie in sich selbst erfühlen, und zwar als »Formen«, als »Töne«, wie die vielfältigen Formen, die in der Natur vorkommen. Sie sind keine Rechner und ihr Verhältnis zu den Zahlen ist »ikonisch«. Sie beschwören seltsame Zahlenszenen, in denen sie sich wie zu Hause fühlen; sie wandern ungezwungen durch riesige Zahlenlandschaften; sie erschaffen, wie Dramatiker, eine ganze Welt von Zahlen.

catch22George Parker Bidder (1806-1878), auch er ein rechnendes Wunder, schrieb über seine Kindheit: »Zahlen bis hundert waren mir völlig vertraut, sie wurden sogar meine Freunde, und ich kannte alle ihre Verwandten und Bekannten.« Der 100 Jahre später lebende holländische Mathematiker und Blitzrechner Willem Klein (1912-1986) schrieb auch: »Zahlen sind meine Freunde.«

 

letters-ref-daleth-1Im hebräischen Alphabet gelten die Buchstaben auch für Zahlen. Die ersten zehn bekamen die Zahlen 1 bis 10 (alef 1, yud 10), die nächsten 10 (von Kaf bis Kuf) repräsentieren 20 bis 100, und die letzten Buchstaben bedeuten 200, 300 und 400. Wir kennen die Numerologie, die in der Kabbala »Gematria« genannt wird, eine Geheimlehre, die mit Quersummen und Additionen Wahrheiten über das Leben aussagen wollen. Die Welt der Zahlen ist rätselhaft, und vielleicht sollte man sie näher anschauen und ins Herz schließen.

So rätselhaft aber auch nicht. Zahlen sind paradigmatisch, und das habe ich am Schluss des Artikels Zahlen und Figuren gezeigt. Dier drei für die Dreifaltigkeit und den Dreisatz, die Vier für Perfektion und Stabilität, die heilige Sieben, zu der wir bald eine kleine Serie haben werden; die Zehn, die rätselhafte Elf, die wichtige Zwölf, die angeblich unglückliche Dreizehn … Da steckt viel drin.

Die Zwillinge und ihr »Seelenfrieden«. Das Wort benutze ich für den Artikel, der morgen erscheint, den ich aber schon früher geschrieben habe. Denn auch andere fanden ihre stille Ecke.

 

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