Abgetaucht

In dem Roman Stella Maris von Cormac McCarthy spricht eine junge Psychiatrie-Patentin zu Beginn immer von Grothendieck, einem Genie. Er erneuerte die Mathematik und sah vermutlich im Geiste die anderen Dimensionen, die für uns nur Worte sind. Irgendwann tauchte er unter.

Ich informierte mich über sein Leben. Er war eines der grössten Genies der Mathematik. Lebte von 1928 bis 2014. Verbrachte seine Kindheit in Berlin. Zog sich als Berühmtheit aufs Dorf zurück und dann noch weiter, nur engste Vertraute kannten den Ort.

Alexander Grothendiecks Eltern flüchteten vor den Nazis, er ging in Hamburg zur Schule und studierte später in Montpellier. Er war Pazifist und wollte nicht Wehrdienst leisten, also verließ er Frankreich und ging nach Brasilien und (bis 1956) nach Kansas. 1953 hatte er schon mit seiner Dissertation die Topologie revolutioniert, und bald stellte er die algebraische Geometrie auf neue Füße. 1966 wurde ihm die Fields-Medaille verliehen die weltweit höchste Auszeichnung für einen Mathematiker. Er vertrat ökologische Ideen, liebäugelte mit dem Buddhismus, lebte wie in einer Kommune, und sein Haus in Paris stand allen offen.

Alexander_GrothendieckGrothendieck sprach sich gegen den Vietnam-Krieg aus und hielt in Hanoi Vorlesungen, während die Stadt bombardiert wurde. (Links im Jahr 1970.) 1973 zog der Mathematiker in eine Dorf am Rand der Cevennen. In Montpellier wurde er noch einmal Professor, und an dem renommierten Institut CNRS in Paris lehrte er bis 1988. In dieser Zeit, in den 1980-er Jahren, interessierte er sich für christliche Mystik und strebte Marthe Robin nach, die ohne Nahrung gelebt hatte, und hungerte sich fast zu Tode. Er schrieb wie besessen, Tausende Seiten füllte er, und 1991 zog er sich ganz aus der Öffentlichkeit zurück. Da war er 63 Jahre alt. In einem Dorf in den Pyrenäen lebte er in einem Haus und ernährte sich hauptsächlich von Löwenzahnsuppe, bis er, 86 Jahre alt geworden, in eine Klinik kam und starb.

IMG_2016Der Mathematiker arbeitete 12 Jahre lang 12 Stunden täglich an seinen Theorien, die wir nicht verstehen. »Unendlichdimensionale topologische Vektorräume« gibt es zu bedenken, und die junge Frau im Roman sagt, an der Kante des topologischen Raums siehst du die nächste Welt, und wenn du dich umdrehst, siehst du nichts, denn »die Welt hat keine Gestalt«. Sie ist wegabstrahiert. Der Denker lebt in einer seltsamen Welt, die mit der da draußen nichts zu tun hat. Was ist die wahre?

Ökologie und Pazifismus und Mystik nahm Grothendieck bitter ernst, er redete nicht nur darüber: alles in allem ein leidenschaftlicher Mensch, der seine Konsequenzen zog. Für ihn stimmte dieses Leben als bewunderter Super-Mathematiker nicht mehr.

Ich finde es immer interessant, die deutsche und die englisch(sprachig)e Wikipedia zu vergleichen. In der deutschen Version wird Grothendieck mit Häme als psychisch grenzwertig dargestellt. Seine letzten Veröffentlichungen werden geradezu ins Lächerliche gezogen. In der englischen Version finden wir das nicht, da widerfährt ihm mehr Gerechtigkeit. Tritt uns da nicht wieder die alte deutsche Selbstgerechtigkeit gegenüber, die Härte gegenüber »Abweichlern«? Der Engländer hat mehr Verständnis für Außenseiter und Querköpfe. (Der Gelehrte sei in Weimar geboren, heißt es da jedoch. Ist wohl falsch)

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Ettore_MajoranaWieder muss man an Ettore Majorana erinnern, der sich mit Quantenphysik und vor allem den Neutrinos befasste. 1906 in Catania auf Sizilien geboren, galt er als Wunderkind und trat in Rom der Fermi-Gruppe bei. Enrico Fermi (1901-1954), der berühmte Physiker, verglich Majorana gar mit Galilei und Newton. In Leipzig lernte der junge Physiker 1933 Werner Heisenberg kennen. Zurückgekehrt nach Rom, verließ er kaum noch sein Haus. Man ernannte ihn zum Professor in Neapel, da war er noch nicht einmal 30 Jahre alt. Dort ernährte er sich fast nur von Milch.

Aus Palermo schrieb er am 25. März 1938, er halte sein Leben für bedeutungslos. Er soll auf dem Schiff von Palermo nach Neapel noch einmal gesehen worden sein. Majorana hob sein Geld ab (10.000 Dollar) und blieb verschwunden. Hartnäckig hält sich die Ansicht, er habe sich in ein süditalienisches Kloster zurückgezogen. Ein Mann allerdings behauptete, er habe ihn in Venezuela gesehen, wo Ettore angeblich von 1955 bis 1959 gelebt habe, und er legte auch Fotos vor.

Anders als Grothendieck veröffentlichte Ettore Majorana wenig und schrieb auch wenig. Doch das Wenige, was er publizierte, nahm Arbeiten vieler seiner prominenten Kollegen vorweg. Majorana war ein Genie der Physik des 20. Jahrhunderts, aber da er so zurückhaltend war, können wir über das Motiv seines Verschwindens nichts sagen.

 

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