Die Schichten eines Textes

Religiöse Texte und gute literarische sind vielschichtig. Sie lassen sich auf verschiedenen Ebenen interpretieren; sie sprechen von mehr als dem, von dem sie sprechen. Man kann von der Oberfläche immer weiter in die Tiefe gehen. Da gibt es eine Faustregel im Judentum, und ich gebe sie hier wieder, um nicht immer wieder in zwei Notizbüchern die entsprechenden Stellen heraussuchen zu müssen.

Der unvergleichliche Gershom Scholem (1897-1982) hat öfter die vier Ebenen oder Schlüssel erwähnt, etwa in seinem Aufsatz The Meaning of the Torah in Jewish Mysticism. Das Schlüsselwort ist pardes oder Paradies, es ist sozusagen das Zauberwort, das die Ebenen ent-schlüsselt. Auf Hebräisch liest man es von rechts nach links, aber das spielt keine Rolle; aber nur die Konsonanten zählen wie im Arabischen.

Das P steht für pardesch, die wörtliche Bedeutung, das R für remes, die allegorische Bedeutung, das D für derascha, die talmudische/agadistische Interpretation und das S für sod, die mystische Bedeutung. Zunächst sieht man die Handlung, dann geht man tiefer: zur Allegorie. Boy meets girl könnte auf der allegorischen Ebene eine Vervollständigung eines Menschen bedeuten; die Besteigung des Mont Ventoux, die Petrarca schilderte, war vermutlich eine Allegorie vom Aufstieg der Seele. Sie ließe sich noch pointierter religiös betrachten, und die mystische Bedeutung ist etwas, das eben verborgen ist und einem unter Umständen enthüllt wird.

Ernst Müller schreibt es in dem Buch Der Sohar und seine Lehre so: »Auch kehrt im Sohar die talmudische Vierteilung der Deutungsmethoden wieder, von denen Peschat jene nach dem nackten Wortsinn, Remes die stereotype Andeutung, Derusch die Allegorie, Sod das innere Geheimnis bedeuten. Die Anfangsbuchstaben dieser vier Wörter ergeben den Namen Pardes, das Paradies des tiefen und vollkommenen Verständnisses.

Berhya ben Asher, Tora-Kommentator (die Tora sind die ersten fünf Bücher des Alten Testaments), schrieb das auch schon 1291 in Saragossa, und auch der Mönch Bede im 8. Jahrhundert erwähnte vier Schichten: Geschichte, Allegorie, Tropologie und Anagogie (heilsgeschichtliche Interpretation).

Man darf sich davon nicht irremachen lassen. Die Interpretation von Texten ist gefahrvoll. Dazu gibt es eine (allegorische) Geschichte, die Müller und Scholem erzählen: Die talmudischen Gelehrten Rabbi Akiba, Ben Zoma, Ben Azzai und Aher betreten das Paradies. Einer sieht und stirbt sofort, die beiden anderen werden verrückt, nur Rabbi Akiba (er lebte etwa von 55 bis 135), der angeblich aus Häkchen im Gesetz Berge von Deutungen ableiten konnte, »trat friedlich ein und kam friedlich wieder heraus«.

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