Borges und das Vergessen

Neben der Rezeption des Hotels Palladio in Giardini Naxos (unser Quartier während zehn Tagen im September, mehr davon später) stand eine Regalwand mit vielen guten Büchern, und unter ihnen war eines mit Gedichten von Jorge Luis Borges: links im Original, rechts in der italienischen Übersetzung. Ein Schatz! Ich las darin.

Das Buch war von 1964; Borges, 1899 geboren, also Mitte sechzig, war vom Gedanken an sein Ende beherrscht, aber dann hatte er doch noch über zwanzig Jahre Zeit, weiter zu schreiben. Viele seiner Gedichte sind gereimt, es sind klassische Sonette darunter, aber auch lange epische Gedichte. 

Borges liebte das Leben. Der Tod würde ihn berauben, es würde womöglich weitergehen, doch lieber wäre ihm fast das Vergessen seiner irdischen Taten. Eine Sache gibt es nicht, schreibt er: das Vergessen. Das stellt er in dem Gedicht Die Rätsel so dar: 

Qué errante laberinto, qué blancura
ciega de resplandor será mi suerte
cuando mi entregue el fin de esta aventura
la curiosa experiencia de la muerte?
Quiero beber su cristalino olvido,
ser para siempre, pero no haber sido.

Welches verwirrende Labyrinth, welches blendende weiße Strahlen wird mein Schicksal sein, wenn mich am Ende dieses Abenteuers die seltsame Erfahrung des Todes trifft? Ich möchte sein kristallines Vergessen trinken, möchte sein für immer, aber nicht gewesen sein. Das Alphabet und das Labyrinth sind Bilder und Konzepte, die Borges immer verfolgt haben. In dem Gedicht Texas erwähnt er das nicht aufhörende Labyrinth der Tage und das mystische Alphabet der Sterne, um mit dem Satz zu schließen:

Aqui también esa desconocida
y ansiosa y breve cosa que es la vida.

(Auch hier diese unbekannte / und angstbeladene und kurze Sache, die das Leben ist.)

Am schönsten ist der zweite Teil von 1964, finde ich.

Ya no seré feliz. Tal vez no importa.
Hay tantas otras cosas en el mundo;
un instante qualquiera es más profundo
y diverso que el mar, la vida es corta
y aunque los horas son tan largas, una
oscura maravilla nos acecha,
la muerte, ese otro mar, esa otra flecha
que nos libra del sol y de la luna
y del amor. La dicha que me diste
y me quitaste debe ser borrada;
lo que era todo tiene que ser nada.
Sólo me quede el goce de estar triste,
esa vana costumbre que me inclina
al Sur, a cierta puerta, a cierta esquina.

Ich werde nicht glücklich sein, aber das spielt keine Rolle, es gibt viele andere Dinge in dieser Welt, und ein beliebiger Augenblick ist tiefer und weiter als das Meer. Doch das Leben ist kurz, wenn auch die Stunden lang sind, und es blendet uns eine dunkle Herrlichkeit: der Tod, dieses andere Meer, dieser andere Pfeil, der uns von der Sonne und dem Mond befreit und von der Liebe. Was alles war, muss nichts sein. So bleibt mir die Traurigkeit, diese eitle Gewohnheit, die mich geneigt macht zum Süden hin, zu gewissen Häfen, zu gewissen Ecken.

 

 

 

 

2 Kommentare zu “Borges und das Vergessen”

  1. Regina

    Lieber Mandy! Das sind schöne Zeilen…doch von der Liebe befreit der Tod bitte nicht, das möchte ich nicht glauben! Das Sehnen und die Liebe existieren weiter, das glaube ich und kann man hören und lesen – klar nicht in physischer Form – davon ist man befreit, was traurig macht, aber dich an schönen Plätzen tröstet – wunderbar – also genieße diese Borges´ „Augenblicke, tiefer und weiter als das Meer – sie sind wertvoll…. Danke – guter Beitrag! Lieben Gruß Gina

  2. web108

    Liebe Gina! Ja, da war der Meister wohl zu skeptisch, und jetzt weiss er mehr. Hast du gut gesehen, liebe Grüße ciao Mandy.