Medizin und Wahrheit

Der Madrilene Gregorio Marañon (1887–1960) war Arzt, Historiker und Schriftsteller: ein umfassend gebildeter Mann. In seinem Aufsatz »Profesión y etica« schreibt er auch über den Arzt/die Ärztin und sein/ihr Verhältnis zur Wahrheit. Das passt zu dem manipogo-Beitrag über ärztlichen Pessimismus.

Marañon schreibt da:

Einer meiner Freunde, den allein der Drang beseelte, immer die Wahrheit zu sagen, was dazu führte, dass die Seinen ihm auswichen und ihn schließlich in die Psychiatrie sperren ließen, schleuderte seine wütendsten Flüche gegen die Mediziner, die ewige Vortäuscher (simuladores) der Wahrheit seien. Aber es ist klar, dass ohne diese Verstellung, die legitim und sakrosankt ist, die wirkungsvollsten Seren und Antibiotika sowie die perfektesten chirugrischen Operationen ins Leere liefen. In einigen Nächten, als meine Arbeit zu Ende ging, stellte ich mir vor, was geschehen wäre, wenn wir all den Kranken, die am Tag vor unserer Klinik defilierten, rigoros die Wahrheit gesagt hätten … Wir müssen also heroischerweise erklären, dass der Arzt nicht nur lügen kann, sondern dass er manchmal sogar lügen muss.

Es gibt aber Ärzte, die der Ansicht sind, der Mediziner dürfe niemals lügen; das würde den Pakt mit dem Patienten untergraben. (Was im Fall einer lebensbedrohenden Krankheit nicht allzu schlimm wäre, da der Tod droht, den Pakt ohnehin aufzulösen.) Die Wahrheit zu sagen ist einfach, denn es gibt ― so meinte Montaigne im 16. Jahrhundert in seinen »Essays« ― nur eine, während »die Kehrseite der Wahrheit hunderttausend Aspekte und ein undefiniertes Feld« besitzt. Ja, die Wahrheit zu sagen ist einfach. Doch Marañon behauptet, wir seien in keiner Weise sicher, die Wahrheit zu besitzen«.

Auch wenn der Arzt überzeugt ist (mit seiner Erfahrung, durch seine Lektüre, die Betrachtung der Bilder), dass diesem Patienten nur noch vier Monate Lebenszeit bleiben werden ― ist das die Wahrheit? Der Mensch ist kein Ball, dessen Fall man genau berechnen kann, eine Diagnose ist eine Annäherung, und Hoffnung kann immer gewährt werden: alles ist möglich. Wenn ein Patient darauf drängt, die Wahrheit zu wissen, wird man ihm nicht ausweichen; man wird nicht so tun, als habe er nichts, aber man könnte ihn ermutigen. Mit der gnadenlosen ungeschminkten »Wahrheit« könnte man ihm indessen den Boden unter den Füßen weg- und ihm »den Stecker herausziehen«: ihm den Lebensmut nehmen. Marañon:

Lange vor der Welle der psychosomatischen Medizin wussten alle, dass ein Patient von einer gnädigen und intelligenten Ungenauigkeit, die gezielt in seinem Unbewussten verankert wurde, mehr profitieren könnte als von allen Mitteln des pharmazeutische Arsenals.

Schwierig ist das. Margrit Fässler, die in Zürich arbeitet, schrieb: »Es ist mitunter eine Gratwanderung, prognostische Aussagen so zu formulieren, dass sie die Patienten ermutigen, aber dennoch realistisch und ehrlich sind.« Wenn man bedenkt, dass Vorhersagen »von oben herab« zu selbst erfüllenden Prophezeiungen werden können und die Psyche des Patienten zu seiner Heilung beiträgt, dann müsste klar werden, dass man eine positiv gemeinte, Hoffnung gebende »Ungenauigkeit« in Kauf nehmen könnte, denn sie lässt noch Türen offen, denn … alles ist möglich.

 

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