Dritte Telegrafenstange

Der Journalist Giovanni Guareschi (1908-1968) ist durch seine Burlesken um Don Camillo und Peppone bekannt geworden, die heute kaum mehr jemand kennt. In einem seiner Bände fand ich eine rührende kleine Liebesgeschichte mit überraschendem Ausgang.

Der Erzähler ist vierzehn, sie ist neunzehn, größer als er und »gut geformt«. Er ist in der »Bassa« – die flache, oft neblige Gegend am Strom Po, zwischen Piacenza und Parma – meist mit dem Fahrrad unterwegs. Er trägt kurze Hosen, ist Hilfsarbeiter bei einem Maurer und gibt sich gerne männlich-brutal. Die beiden haben sich öfter unterhalten, und er droht: »Wenn ich dich mit einem andern sehe, dann …« Bei ihrer ersten Begegnung darf er sich gelbe Pflaumen von ihrem Baum holen, weil er Durst hat.

Die flache Gegend am Po

Irgendwann ist er achtzehn, sie aber dreiundzwanzig. Keine Chance. Wenn er aber vom Militär gekommen sein wird, ist er einundzwanzig und sie sechsundzwanzig, dann sähe es besser aus. Er mag sie so sehr. Der Junge wird einberufen und verabschiedet sich von ihr. Sie stand immer an der dritten Telegrafenstange auf der Straße nach Fabbricone. Da würde sie auf ihn warten.

Nach seinen achtzehn Monaten fährt er gleich dorthin. Sie wartet. Nun hätte er gern wieder ein paar gelbe Pflaumen. »Es tut mir leid, aber der Baum ist  abgebrannt.« Sie ergänzt, vor sechs Monaten sei der Heustadel in Flammen aufgegangen und alles um ihn herum mit.

»›Und du?‹ fragte ich.
›Auch ich‹, antwortete sie mit einem Seufzer, ›auch ich, wie alles andere. Ein Häufchen Asche und weg war ich.‹
Ich schaute das Mädchen an, das an der Telegrafenstange angelehnt stand; ich schaute sie starr an, und durch ihr Gesicht und ihren Körper hindurch sah ich die Holzadern der Stange und das Gras im Graben. Ich richtete einen Finger auf ihre Stirn und berührte die Telegrafenstange.
›Habe ich dir weh getan?‹ fragte ich.
›Nein, du hast mir nicht weh getan.‹
Wir blieben eine Weile schweigend stehen, während der Himmel immer dunkler rot wurde.
›Und jetzt?‹ sagte ich endlich.
›Ich habe auf dich gewartet‹, seufzte das Mädchen, ›damit du siehst, dass es nicht meine Schuld war. Kann ich jetzt gehen?‹«

Er verneint. So leicht werde sie ihn nicht los. »Es ist gut« sagt das Mädchen. Der Erzähler schließt seine Geschichte ab: Es seien nun zwölf Jahre, dass sie sich jeden Abend sähen. Er grüßt sie, ohne vom Rad abzusteigen, und sie grüßt ihn. Er erläutert: »… dort ist der breite ewige Atem des Flusses, der die Luft reinigt. Des stillen und majestätischen Flusses, über dessen Damm gegen Abend der Tod auf dem Fahrrad dahineilt. Oder geh du nachts auf dem Damm und bleibt stehen und setze dich hinter dem kleinen Friedhof nieder, der da unten, unterhalb des Dammes liegt. Wenn dann der Schatten eines Toten kommt und sich neben dir niederläßt, erschrick nicht und sprich ruhig mit ihm.«

Friedhof in der „Bassa“ (auf einer Reise im Mai 2011 fotografiert)

 

Ein Kommentar zu “Dritte Telegrafenstange”

  1. Regina

    Lieber Mandy! – schöne Geschichte und aus einem Passus von einem Brief Rudolf Steiner´s:„Meine Liebe sei den Hüllen, die dich jetzt umgeben – kühlend deine Wärme, wärmend deine Kälte – opfernd einverwoben! Lebe liebgetragen, Lichtbeschenkt, nach oben! viele Grüße, ciao Gina