Jenseits der Chirurgie
Der Chirurg Allan J. Hamilton hat im Jahr 2008 das Buch The Scalpel and the Soul veröffentlicht, das zwei Jahre später in Deutschland als Skalpell und Seele herauskam. Ich kann das Buch nicht genug loben. Auch ohne seine übernatürlichen Bestandteile wäre es lesenswert, weil Hamilton jemand ist, der mitgedacht, mit seinen Patienten mitgefühlt und mitgelitten, aber auch Fehler gemacht hat (die er nicht verschweigt).
Wie wir alle. Beim Chirurgen allerdings kostet ein Fehler zuweilen ein Leben, und auch das verschweigt Hamilton nicht. Es gebe ein paar Fälle, über die vergieße er nach Jahren noch Tränen, schrieb er. Dass es nicht das übliche Mediziner-Buch ist, begreift man schon bald, als der Autor erzählt, wie er nach dem Tod seines Hundes Odin plötzlich manche Menschen von einem wächsernen Licht umgeben sah … und diese Menschen, das lernte er, starben bald.
Operation. Foto von Arthur Rothstein, 1944, Herrin Hospital. Library of Congress, Washingtton D. C.Als Chirurg ging er morgens unter der Dusche die Operationen durch, und wenn etwas nach seinem Gefühl nicht stimmte, verschob er denEingriff, und wenn ein Patient Angst hatte oder düstere Vorahnungen, verzichtete er auch auf die OP.
Der sechste Sinn gibt einem Informationen über die Fakten hinaus. Er ist eine Gabe, aber auch ein Fluch. Die Fakten (oder die Zahlen auf dem Krankenblatt) sagten auch, dass Rocky – ein Obdachlose, der schon fast jede denkbare Krankheit gehabt hatte – stabil war und sich gewiss erholen würde: »Harvard numbers«, nennen das die Ärzte. Nichts deutete auf eine Krise hin. Also besorgte Allan J. Hamilton, damals junger Arzt im Praktikum, ihm einen Platz in einer Rehabilitationsklinik, obwohl der Patient abwehrte: Nein, er werde mit seinem Sohn gehen. Irgendwann erfahren die Ärzte, dass Rockys Sohn schon lange tot ist. Er sei zu ihm gekommen, beharrt Rocky, und er werde mit ihm gehen.
Dem Experten ist das ein untrügliches Zeichen, dass das Ende bevorsteht. Ein verstorbener enger Angehöriger will Rocky abholen. Alles klar. Der Platz ist aber reserviert, Rocky wird abgeholt … und zwei Stunden später ruft der Chef der Institution an und meldet, der Patient sei zusammengebrochen und gestorben. Anders war es dann bei Harry, einem Jungen, der bei einem Elektrounfall völlig verbrannt worden war. Seine Überlebenschance war gering. Sein Vater starb vor Kummer über den Unfall, 42 Jahre alt. Harry fragt Allan, wie es seinem Vater gehe. Gut, lügt Hamilton. Komisch, meint Harry, er stand gerade an meinem Bett und lächelte mich an. Dann gesteht der junge Arzt alles. In diesem Fall wollte der Vater als Geist seinem Sohn Mut machen. Dieser erholte sich sogar und bewies unglaublichen Lebensmut.
Ein Kapitel ist Sarah Gideon gewidmet, die für eine komplizierte Aorta-Operation eine halbe Stunde »vom Netz genommen« werden musste. Es durfte keinen Blutstrom geben, man kühlte sie herunter, und sie war hirntot. Kein Zweifel daran. Alle Datenblätter bewiesen das. Dennoch konnte sie später Unterhaltungen im Operationssaal wiedergeben. Kein Arzt konnte das glauben. Das würde bedeuten, dass Sarahs Bewusstsein sich außerhalb ihres Gehirns befunden hatte. Natürlich ist das Gehirn nur Transmitter des Bewusstseins, wir wissen das, doch Ärzte wollen und dürfen das nicht glauben, und so wurde der Fall irgendwie abgelegt. Sarah starb später an einem Autounfall, und so war diese lästige Zeugin verschwunden.
Allan J. Hamilton ist ein Arzt, wie man ihn sich wünscht. 20 Regeln hat er den Patienten überlassen: Glaube an das Glück (im Sinne von Dusel), leb mit dem Tod, schau dir die Alternativmedizin an, unterwirf dich nicht dem Krankenhausregime, such dir einen guten Arzt, bete mit ihm, und überhaupt, schöner Spruch: There’s no surgery like no surgery. Die beste Operation ist keine Operation.