Wie ich gegen einen Weltmeister verlor
Ich hatte eine Weihnachtspredigt schreiben wollen, doch an dem Tag, als ich es mir vorgenommen hatte, erlebte ich etwas Ungeheures, und gleich danach dachte ich mir: Das schreibe ich. »Wie ich einem Weltmeister unterlag.« Es ist, natürlich, eine Radfahrer-Geschichte.
Ich muss vorausschicken: Es war acht Tage vor dem Heiligen Abend, ein wundermilder Tag mit 15 Grad, wie gemacht für eine Rennradausfahrt. Ich las noch wie jeden Vormittag eine Seite aus einem russischen Roman (mit Wörterbuch), weil ich ja Ende Mai zu einem Treffen der Freunde mit ihren Veteranen-Rädern in Moskau reisen will. Dann kleidete ich mich um und dachte mir: Fahr nach Kandern und über die Rheinebene zurück, drei Stunden insgesamt.
Jan Paulsen als radelnder Weihnachtsmann wünscht „God jul“Ich hatte sechs Wochen intensiv an meinem Radsport-Buch Radsport furios gearbeitet, aber das Buch für drei Wochen beseite gelegt. Aber, das weiß ich genau, auf den ersten Kilometern dachte ich mir, dass der Bahn-Radsport zu kurz gekommen sei. Ich machte mir eine mentale Notiz, die hieß: Bahnrad-Weltmeisterschaften. Das schaust du dir im Januar dann bei Wikipedia an.
Ich erreichte Kandern, zischte nach Schliengen hinunter, aß an der Sonne eine Banane und fuhr zügig weiter über Auggen und Müllheim nach Buggingen. Nach dem Ort, auf dem Weg nach Seefelden, sah ich zwei ältere Rennradfahrer vor mir, die nebeneinander fuhren. Ich überholte sie und grüsste. Kurz vor Seefelden hing dann einer an mir dran (ich sah rechts hinterhalb von mir seinen Schatten). Er flog an mir vorbei und hatte ein gutes Tempo drauf. Seefelden, wir durchfuhren den Ort, und ich dachte mir: Am Ortsausgang packst du ihn.
Ich beschleunigte also mit voller Kraft und hielt eine gute pace, legte zwischendurch immer noch einen Zahn zu und dachte mir: Den hast du. Irrtum! Nach einem Kilometer war er schon wieder da, wieder sein Schatten, aber ich konnte nicht mehr und wollte den Motor nicht überdrehen, das Herz machte sich schon bemerkbar, und ich nahm das Tempo raus, während er mich wieder überholte. Dann hielt er sich neben mir und meinte gönnerhaft: »Sie haben keine Chance!«
Wie alt ich sei? fragte der Mann. Ich gab mein Alter an, neunundfünfzig (fast). Er sagte: vierundsechzig. Dann ergänzte er: »Ich war Weltmeister.« ― »In welcher Disziplin?« ― »Bahnradfahren, 1000 Meter. 1971 und 1974 war ich Weltmeister, 1973 und 1975 Zweiter, 1979 Dritter.« ― »Welches Land?« ― »Russland.« Leider musste er zum Fahrradgeschäft in Heitersheim, ich fuhr weiter nach Bad Krozingen.
Verrückt. Ich hatte im Sprint gegen einen Weltmeister verloren. Und überhaupt: Es war, als hätten sich in ihm meine Gedanken materialisiert. Russland und der Bahnradsport. Wir wissen nicht, wie oft unsre geheimen Gedanken wirken und wir beschenkt werden. Wir bekommen, was wir brauchen. Nicht nur an Weihnachten.
Zu Hause schaute ich natürlich nach. War alles korrekt. Der Fahrer hieß Eduard Reingoldowitsch Rapp, geboren am 3. März 1951 in Omsk (Wikipedia weiß das), und er war als junger Mann zwei Mal Weltmeister und zwei Mal Vize-Weltmeister im 1-Kilometer-Zeitfahren. Dabei werden manchmal Leistungen von über 1000 Watt erzielt (stehender Start), und im Ziel ist der Fahrer vollständig erschöpft (ich hatte zum Glück rechtzeitig resigniert). Ich war also, ohne es zu ahnen, gegen einen der schnellsten Radfahrer der 1970er Jahre über 1000 Meter angetreten … Wahnsinn und Leichtsinn. Heute lebe Eduard Rapp in Süddeutschland, heißt es noch, und er fahre Rennen als Senior für den Verein Eichstetten.
Damit wünscht manipogo frohe Weihnachten und erholsame Feiertage! Danke für eure Treue stets.