Die Fahrrad-Hochstraße um die Welt
Zehn Minuten vorher war man noch ärmer. Denn man (ich) hatte nur ein Blatt mit dem Teil einer spannenden Geschichte, nur den Autor hatte ich nicht. Ich gab also Schlüsselbegriffe ein und stieß auf den Verfasser: Alphonse Allais. Er wurde 1854 in Honfleur in der Provinz Calvados geboren und starb 1905 in Paris. Er hat wunderbare Humoresken geschrieben und muss ein lustiger Kerl gewesen sein.
In dem Text, der mir nur zum Teil vorlag, ging es um das Radfahren (Das Gutenberg-Projekt hat ein paar betitelte Gemälde von Allais, köstliche Aprilscherze). Er ist in einem Diogenes-Band abgedruckt, im Lesebuch Fahrradfreunde. Alphonse Allais schildert, es habe sich die »Allgemeine Gesellschaft der weltumspannenden Viadukte« gegründet, die mit einer Milliarde Francs einen ebenen Rad-Schnellweg um die Welt errichten möchte, über den Ozean auf Pfeilern, die wiederum auf Luftkissen ruhen.
»Stellen Sie sich eine fabelhaft leichte, endlose, auf Bambuspfeilern schwebende Hochstraße vor!« schwärmt der Autor (in der Übersetzung von Christel Gersch). Bis 1900 solle alles fertig sein. Die Strecke: Paris–Brest–Halifax–Vancouver–Hawaii–Japan–China–Kaukasus–Russland–Deutschland–Paris. »Alle hundert Kilometer soll der Radreisende ein hochkomfortables Etablissement vorfinden, das gleichzeitig Hotel, Restaurant, Versorgungs- und Reparaturstützpunkt ist …«
Eine Montage als Werbung für einen Fahrradring durch und um Rom (Marco Pierfranceschi, Mammifero bipede)Den »geschätzten Haltern von Fahrrädern und leichten Motorgefährten« solle damit das lange Reisen angenehmer gemacht werden. Alphonse Allais versuchte sich damit als Prophet wie Jules Verne, der Reisen unter Wasser, zum Mond und ins Erdinnere geschildert hatte, wovon einiges in die Tat umgesetzt wurde. Allais und Verne starben übrigens im selben Jahr (Verne im März 1905, ein halbes Jahr früher).
Und Allais behielt Recht. Alles kam so … und noch viel besser. Nur: für das Automobil. Nur für das Automobil. Dessen Schnellstraßen sind lebensfeindliche Wege, die man nicht einfach überqueren kann; sie durchtrennen die Landschaft und schaffen Gräben und Grenzen. Die Welt wurde zugepflastert und zerschnitten, damit man sie im motorbetriebenen Gefährt besser durchqueren kann.
In Göttingen ist kürzlich ein Radschnellweg eröffnet worden, vom Bahnhof zur Uni. Der Architekt Albert Speer hat schon früher von seinem Traum gesprochen, Städte durch große Rad-Trassen zu verbinden, damit man leicht hindurch kommt. Köln plant nun einen Schnellweg für das Jahr 2020. Autobahnen baut man schnell, beim Fahrrad lässt man sich gern Zeit.
In Rom hat die Politik immer gern mit Radlergremien diskutiert, aber nur, um die lästigen »Umweltapostel« hinzuhalten. In der Zeit, in der kein Zentimeter Radweg gebaut wurde, erneuerte man einige Stücke der Stadtautobahn, wie Marco Pierfranceschi schrieb. Es sei ein Inferno, das die Bürger umgebe und das Stück für Stück weiter ausgebaut werde. Auf der erträumten Hochstraße würde man dahinradeln, hinüberblicken zu den Hügeln der Ewigen Stadt und hinunter auf die Autos in ihrem Ewigen Stau.