Autonomie durch Kontrolle
Das Titel-Schlagwort hat Helmut kürzlich bei einer Radtour in Bayern ins Gespräch gebracht. Darüber kann man nachdenken. Ich kenne ja viele »Kontrollfreaks«, und diese Gesellschaft entwickelt sich allmählich dorthin. Hat man auch an der Fußball-Europameisterschaft gesehen, der nur Island und Wales Farbe verliehen.
Man schaut herum und zieht seine Schlüsse. Alte Sachen: die lachhaften Lügen der Werbung, die Heuchelei und die Tricks der Geschäftswelt. Der lachende Mann mit der Mineralwasserflasche. Glücklich durch gutes Zahnfleisch.Ich kaufte ein Pflegeshampoo von Nivea, auf dem steht: »Erkennt geschädigte Haarpartien & repariert sie gezielt«. Glaub ich nie. Ein Shampoo mit Bewusstsein! Smart shampoo. Man kommt sich allmählich wie in einer Sekte vor, in der alle glücklich sind, man aber auch vorsichtig sein muss: Mach keine Fehler, sag Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit eingeschränkter Bewegungskompetenz.
Kontrolle überall. Wir werden beobachtet durch Kameras und aus dem All, man warnt uns vor Risiken einer Herzkrankheit, vorm Rauchen und Trinken. Das Finanzamt will Belege von mir, weil es mich (wie die Gesundheitskasse) für einen potenziellen Betrüger hält. Sie könne die Verantwortung nicht übernehmen, warnt die Kellnerin in einem Hotel im Südschwarzwald, der Wind könne den Schirm umblasen. Man möchte für alles eine Versicherung.
Dann bringt sie (die Kellnerin) mir einen opulent geschmückten Mohnkuchen und eineb Kaffee mit weißen Schleifchen am Milchkännlein und will dafür 10,90. Beim Klassentreffen in einem Restaurant in Bruck: drei winzige Fleischstückchen mit einem Häuflein Nudeln, macht 14,90. Überall ist das so. Unseriöses Gebaren. Viel Sahne drumherum, viel Getue, aber eigentlich wollen sie dir mit ihrer Garnierung nur das Geld aus der Tasche ziehen. Dabei will ich was Einfaches, Reelles, eine ehrliche Sache. Die gibt’s kaum mehr.
Risikovermeidung. Die Fußball-Mannschaften haben Angst. Sie wollen den anderen nicht ins offene Messer rennen. Das führt zum Rasenschach. Bringt Kontrolle wirklich Autonomie? Vermutlich schon, aber es ist eine trügerische Autonomie, die mit Masochismus zu tun hat. Mir kann nichts passieren, ich bin versichert. So verlernen wir allmählich das, was den Menschen ausmacht. So nähern wir uns mit Bedacht dem 100. Geburtstag, und war da was? Da fällt mir ein Buchtitel von Carlo Levi ein: Angst vor der Freiheit. Die Demokratie hat Freiheit geschenkt, und keiner will sie so recht. Angst vor der Sucht haben sie auch. Du musst bei einem Treffen mit Eigenheim- und Zweitauto-Besitzern nur irgendwie Rauchen oder Trinken erwähnen, dann wird gleich eine halbe Stunde diskutiert und doziert: Seit wann sie nicht mehr rauchen. Klar, die Sucht ist Abhängigkeit, und man will ja autonom sein. Also kontrolliert man sich. Doch solange man die Sucht »auf dem Schirm« hat, steckt man noch drin im System und ist nicht frei. Drüberstehn muss man! (Darum gaben sich manche gnostische Sekten allen möglichen Exzessen hin, um zu zeigen, dass sie immun gegen sie sind, und man könnte acht Wohnungen auf vier Kontinenten haben und frei sein, wenn einem das alles nichts bedeutet.)
Kunst: kann man vergessen. Da wird nichts mehr riskiert. Das Gewohnte. Wer kann, macht eine Picasso-Ausstellung, das kennen alle, darauf fahren alle ab. (Vor 100 Jahren war Picasso trash.) Überall modernist control, statt sie mal sein zu lassen und dem Zufall Raum zu geben. Es ist alles schrecklich reaktionär geworden. Die allermeisten Veranstaltungen kann man vergessen, und Fernsehen ist ohnehin unerträglich.
Natürlich wird diese Kultur zugrunde gehen. Sie zerstört den Planeten und passt gut auf, dass im Joghurt nicht zuviel Zucker ist. Sie macht ihre Fußball-Europameisterschaft und hat längst vergessen, dass erst acht Monate zuvor in Paris (und im Stadion St. Denis) Leute erschossen wurden. Wen kümmert es schon, was war? Doch dann waren die Fans gut drauf und jubelten, dass es eine Freude war, und erst das Stadtfest Müllheim, wo junge Leute sich überschwenglich begrüßten und auf und ab hüpften vor Freude über die Techno-Musik. Die Jungen! Das Leben ist noch da, es pulst, aber meist da, wo wir, die Älteren, nicht sind.