Raum für Überraschungen

Ende Mai hatte ich über die Zeitschrift Lettre International geschrieben, und nun fiel mir eine fiche in die Hände (ein Karteiblatt mit Anmerkungen), die auf einen Aufsatz darin Bezug nahm. Es ging um die Kreativität und Offenheit bei Experimenten in der Forschung, ein Stück Anarchie in wohlgesetzten Worten.

Denn Forschung und Experimente gelten als Exempel für Präzision und Vorhersehbarkeit. Nun schreibt aber Hans-Jörg Rheinberger, wobei er Michel Polanyi (1891-1976) als Zeugen heranzieht:

Vollkommen zu Recht weist er darauf hin, dass nicht alles explizit gemacht werden kann. Bei der naturwissenschaftlichen Arbeit bleibt stets etwas übrig, das sich logisch nicht auflösen lässt.

Das erinnert an Kurt Gödel, der bewiesen hatte, dass die Mathematik unvollständig ist und bleiben wird: Es gibt in allen ihren formalen Systemen wahre Sätze, die sich innerhalb des Systems nicht beweisen lassen (nur, indem man eine höhere Ebene beschreitet). Rheinberger hatte 2001 das Buch Experimentalsysteme und epistemische Dinge veröffentlicht und fährt fort:

Wenn Sie in der Forschung produktiv sein wollen, müssen Sie in Ihren Experimentalanordnungen Raum für Überraschungen, für unerwartete Dinge lassen. Dies geschieht nur, wenn die Experimente einerseits genau entworfen werden, andererseits aber auch so komplex sind, dass Sie von den Ergebnissen überrascht werden können.

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Er entwirft den Gegensatz zwischen epistemischen Dingen und technischen Objekten. Episteme heißt Erkenntnis, Wissen, aber auch Wissenschaft. Plato grenzte episteme als theoretisches Wissen gegen techne, das praktische Können ab.

Das technische Objekt beziehungsweise das epistemische Ding sind die materiellen Korrelate des Wechselspiels zwischen Stabilität und Veränderung, das für die charakteristische Zukunftsoffenheit des Experimentalprozesses sorgt.

Das technische Ding ist eben da und die Basis, während das epistemische Ding – vermutlich eine Anordnung, eine Variation, eine Theorie – Spannung in die Sache bringt. (Illustration: Geräte, um das Gewicht von Luft zu messen, wie abgebildet bei Blaise Pascal; library of congress, Washington D. C.)

Wissenserwerb:  irreduzibles Wechselspiel zwischen Identität (dem Technischen) und Differenz (dem Epistemischen).

Das Feste und das Veränderliche … Shlomo Giora Shoham führte in seinem Buch The Bridge to Nothingness zwei Vektoren ein: Partizipation und Separation. Jeder Mensch wolle einerseits dazugehören, sich andererseits absondern: Identität und Differenz. Er steht zwischen diesen beiden Polen. Der Wunsch nach Differenz jedoch werde sich immer als stärker erweisen, meinte er. Die Kreativität und der eigene Weg –  das Individuelle – sind der Leitstern. Sie verändern die Welt.

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