Unterm Halbmond
Die Berliner Zeitschrift Lettre International hat in ihrem Frühjahrsheft die Rubrik Unterm Halbmond mit sechs fundierten, langen Artikeln über den Islam und Nahost-Themen. Da lernt man was. Die islamische Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten erläutert uns der Schweizer Journalist Georg Brunold, hervorragend ist das.
Die Lettre international ist ziemlich französisch geprägt, hat wunderbar ausführliche Texte (ich freute mich richtig darüber, war gierig aufs Lesen), wenngleich leider dieses riesige unpraktische DIN-A3-Format. Damit passt sie nicht so richtig in die Fahrrad-Packtasche und wird immer gequetscht.
Brunold schildert, wie gesagt, wie es zu der grundlegenden Spaltung kam und gibt uns ein Gesamtbild der Region. Er schreibt:
Die Folgen der Besetzung des Iraks 2003-2010 sind mit fatalster Konsequenz das Gegenteil der Absichten, sowohl jener der maßgeblichen Initianten in Washington als auch jener der westlichen und arabischen Partner der amerikanischen Weltmacht.
In dem Machtvakuum, entstanden durch die Zerstörung des Baath-Regimes in Bagdad, radikalisierte sich der Widerstand. Die Al-quaida im Irak zerstörte 2006 die Kuppel der Al-aksa-Moschee. 1000 Menschen starben. So begann ein Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten im Irak. Die Iraker Al-quaida benannte sich in ISIS um und wird von Saudi-Arabien und der Türkei unterstützt.
Die Erfolge des IS in beiden Ländern sind wie ihre plakativen Gewaltorgien vor dem Hintergrund einer ungleich breiter gestreuten Erscheinung und Erfahrung von Gewalt zu sehen, die seit 35 Jahren den Irak und nun seit bald fünf Jahren Syrien heimsucht und von deren Ausmaßen im Westen noch zu wenig ins Bewusstsein aufgestiegen ist. Die Rede ist von Hunderttausenden von Toten.
174.000 Tote in den zehn Jahren des Irak-Iran-Kriegs, ebensoviele Tote durch Saddams 25-jährige Schreckensherrschaft, 250.000 Tote im Frühjahr 1991 im Kurdenland, 100.000 Tote von 1987 bis 1989 bei irakischen Feldzügen unter Kurden, eine halbe Million gefallener irakischer Soldaten im Irak-Iran-Krieg; der »Desert Storm« zur Befreiung Kuwaits forderte vielleicht 100.000 Opfer, und vergessen wir nicht die Toten in Algerien in den 1990er Jahren, vielleicht auch 250.000. Eine schreckliche Zählung. Kopflos sei der hundertjährige westliche Interventionismus zu nennen, der ganze Regionen und Staaten zu verheerend ausgebrannten Gegenden machte.
Zum Martyrium des Selbstmordattentäters meint Georg Brunold:
Eine arabische Besonderheit ist die religiös aufgeladene Todessehnsucht und mit ihr das Selbstzweckartige des Suizids, der freilich nicht die Opfer, aber immerhin den Täter direkten Wegs ins Paradies befördern soll. … Sein Einsatz ist vom Feind durch nichts zu überbieten, hat hienieden keine Entgegnung mehr zu fürchten.