Spoon River

Das Erdbeben in Amatrice. Die Terroranschläge in vielen Städten. Es hat in den vergangenen zwei Jahren viele Opfer gegeben, und wie ihnen gedenken? Manche Zeitung ist dazu übergegangen, sie in Bildergalerien vorzustellen mit Namen und Lebenslauf. Guter Gedanke.

Hier sehen wir etwa 40 der 290 Opfer von Amatrice. Schlimmer kam einem die Kollektion der Toten im Bataclan-Club in Paris vor – vielleicht, weil diese Tode von Menschen herbeigeführt und ein so völlig sinnloses Auslöschen waren; ein Erdbeben lässt einen noch an Schicksal denken, als grausamen twist of fate.

Die Bilder sind vermutlich von Facebook-Seiten genommen worden. Dafür musste man nicht Witwen schütteln, wie das früher im Boulevard-Journalismus hieß, wenn der Volontär von der Witwe eines Toten sich Bilder aus dem Familienalbum zu erbetteln hatte. Die New York Times hat kürzlich alle Namen der Menschen aufgelistet, die im Jahr zuvor durch einen terroristischen Anschlag ihr Leben verloren hatten.

Diese Fleißarbeit mag als rudimentäre Trauerarbeit hingehen, aber mehr ist es nicht. Wer registriert die ertrunkenen Bootsflüchtlinge, wer die Bombentoten von Homs, Aleppo und in Krankenhäusern, die zynische Militärs bombardieren ließen? Wir sind daran gewohnt, dass die Nachrichtensendungen im Fernsehen zwei Minuten für ein unbedeutendes Treffen von deutsch-polnischen Politikern übrig haben, aber keine Sekunde für einen Bombenanschlag in Bagdad, der 80 Menschen das Leben gekostet hat. One World, one Love. Die Würde des Menschen und die Wertschätzung des Individuums bezieht sich leider zunächst auf die eigenen Leute. Keine Deutsche unter den Opfern. Nächste Meldung.

Die Bildergalerien von La Repubblica sind eine italienische Spezialität. Da gibt es eine Hinneigung zum Tod, die rasch die Pietät außer Acht und die Hinterbliebenen in ihrer Wut zu Wort kommen lässt. Es geht um die Sensation, und die privacy steht hintenan. Aber: Der Tod nimmt in Italien breiteren Raum ein als in Deutschland.

Friedhof Santa Marinella, 1. November 2015 (Totentag)

Friedhof Santa Marinella, 1. November 2015 (Totentag)

Diese Galerien ließen mich auch an die Spoon River Anthology denken. Edgar Lee Masters (1868-1950) schrieb für sie, die 1915 erschien, 212 Gedichte von 242 Personen eines kleinen amerikanischen Städtchens, die ihr Leben verloren und aus dem anderen Reich noch einmal zurückschauen. 1943 wurde das Buch ins Italienische übersetzt und hatte großen Erfolg – viel größeren, als das Buch in Deutschland hatte. In Italien wird die Anthologie oft zitiert.

Mary McNeely
Der du vorübergehst:
Zu lieben ist, deine eigene Seele
durch die Seele des Geliebten zu finden.
Wenn der Geliebte sich von deiner Seele zurückzieht,
dann hast du deine eigene Seele verloren.
Es steht geschrieben: Ich habe einen Freund,
aber mein Kummer hat keinen Freund.
Darum meine langen Jahre der Einsamkeit im Heim
meines Vaters …

Toskana

Toskana

Wunderbar fand ich immer den Bericht von Jennie McGrew. Auf Englisch muss man ihn hören:

Not, where the stairway turns in the dark,
A hooded figure, shriveled under a flowing cloak!
Not yellow eyes in the room at night,
Staring out from a surface of cobweb gray!
And not the flap of a condor wing,
When the roar of life in your ears begins
As a sound heard never before!
But on a sunny afternoon,
By a country road,
Where purple rag-weeds bloom along a straggling fence,
And the field is gleaned, and the air is still,
To see against the sun-light something black,
Like a blot with an iris rim –
That is the sign to eyes of second sight.
And that I saw.

Nicht da, wo die Treppe ins Dunkel mündet,
Eine verhüllte Gestalt unter einem wehenden Umhang!
Nicht gelbe Augen im Zimmer des Nachts,
Starrend aus einem grauen Spinnennetz!
Und nicht das Flattern von Kondorflügeln,
Wenn das Röhren des Lebens in deinen Ohren beginnt,
Wie ein Klang, nie zuvor gehört!
Aber an einem sonnigen Nachmittag,
Wo purpurne Wicken auf einem krummen Zaun blühen,
Und das Feld abgeerntet ist, die Luft still,
Gegen das Sonnenlicht etwas Schwarzes zu sehen,
Wie ein Fleck mit einem irisierenden Rand –
Das ist das Zeichen für Augen, die in die Ferne sehen.
Und ich sah es.

± ± ±

Am dritten Tag auferstanden von den Toten … manipogo muss eine Weile im Drei-Tage-Rhythmus erscheinen, weil mein nächstes Buch viel Arbeit erfordert. Wenn ich Land sehe, schreibe ich wieder öfter.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.