Des Geisters Kleider
Wenn ein Geist erscheint, zeigt er sich meist, wie wir ihn zu Lebzeiten gekannt haben. Er hat seine typischen Kleider an. Auch die Verstorbenen, die bei Séancen auftauchen (das gibt es heute kaum mehr), sind bekleidet. Warum? Diese Frage hat einige Fachleute beschäftigt.
Bei den Séancen kann ein Verstorbener nur erscheinen, wenn ihm das Medium, das oft in seinem Kabinett sitzt, Energie spendet. Dies geschieht in Form von Ektoplasma, das die »Seele« einhüllt. Robert Crookall meinte in seinem Buch The next world ― and the next (1966), dass der »Kleiderstoff« dabei nicht imaginär ist, sondern eine halbphysische Substanz besitzt. Alan Gauld, ein HIstoriker der Parapsychologie, nach einer Séance: »Man weiß nicht, ob bei Jones‘ Geist die Hosen durch Hosenträger halten oder durch den Glauben.« Durch den starken Energieaustausch werden diese Kleider (und auch Teppiche im Séancenraum) stark abgenutzt.
Bei Geistern, die spontan erscheinen, sieht man laut Crookall das vehicle of vitality ― unser double: der Astralkörper, zwischen Geist und Materie schwebend ―, das für den Aufstieg in die nächste Dimension gedacht ist und später im »zweiten Tod« abgeworfen wird. Die Kleider an Erscheinungen sind mentale Bilder, auf das vehicle of vitality projiziert. Manche Verstorbene bleiben jedoch wochenlang in diesem Körper oder hängen mit ihm auch eine Weile (oder länger, 100 Jahre: wenn sie erdgebunden sind) auf Erden fest; andere gehen durch einen Nebel hindurch und erreichen das Licht leicht. »Die Seelen-Aura«, schreibt Crookall, »begleitet die Seele in die geisterhafte Umgebung, kondensiert und wird zu ihren Kleidern.« Das sind meist weiße wehende Roben. »Sein Aussehen war wie ein Blitz, und sein Gewand war weiß wie Schnee«, sagt Matthäus in seinem Evangelium über Christus, als der Engel den Stein vor dessen Grab weggewälzt hat und die beiden Marien ihn nach seinem Tod erblicken.
Dr. Wiltse aus Kansas, der 1890 »starb« und ins Leben zurückkehrte, berichtete später, er habe eine wiegende Bewegung gespürt, dann das Reißen von einer Menge kleiner Schnüre gehört, wonach er sich in seinem Kopf gespürt habe und durch diesen ausgetreten sei. Wie eine Seifenblase wippte er, bis er loskam und auf den Boden fiel. Er erhob sich zu seiner vollen Größe, schien »durchsichtig und bläulich« zu sein und »völlig nackt«. Dann ging er zur Tür ― und war plötzlich bekleidet. Es fiel ihm auf, dass er mit einer Art weißer Schnur noch an seinen im Bett liegenden Körper gebunden war. Ein Hindernis lag ihm im Weg, eine dunkle Wolke legte sich auf ihn ― und Doktor Wiltse war wieder zurück in seinem Körper.
Brad Steiger, der in seinem Buch Astral Projection (1983) den Fall diskutiert, meint, dass die Person, die bei der außerkörperlichen Erfahrung die Essenz seiner Persönlichkeit mitnimmt, wie im Traum die Kleider erschafft, damit man ihn erkennen kann. Es wirkt vermutlich immer noch die Scheu, nicht nackt dastehen zu wollen. Geister in Séancen zeigen sich auch gern so, wie man sie zuletzt im Leben gesehen hat, auch kränklich und leidend, um von den Ihren identifiziert werden zu können. Später können sie dann viel jünger und geradezu strahlend wirken.