Das Schiff der schweigenden Seelen

Endlich hab ich’s begriffen: Der 2. November ist in der römisch-katholischen Kirche der Allerseelentag, an dem man der Toten gedenkt. Der Heiligen gedenkt man am Tag vorher. Aber das ist nicht wichtig: Ende Oktober und Anfang November bezeichnet in vielen Kulturen den Zeitabschnitt, an dem die Verstorbenen »Ausgang« haben und man ihnen Kerzen auf die Gräber stellt.

Die Romane von Alberto Vázquez-Figueroa kann man gut lesen. Es sind Abenteuerromane, die oft in Afrika, Südamerika oder am Meer spielen. Oceano (1984) geht dann mit Maradentro (1985) weiter. Die Fischerfamilie dieses Namens auf Lanzarote muss (in Oceano) schweren Herzens ihr Heimatdorf verlassen, weil der Sohn nachts den Sohn eines reichen Grundbesitzers tötete, der seine Schwester, die wunderschöne und medial begabte Yaiza, vergewaltigen wollte. Maradentro erinnert an Malavoglia, die Fischerfamilie, die Giuseppe Verga in seinem Roman I Malavoglia beschrieben hat.

Also sitzen sie betrübt im Schiff Isla de Lobos, das Yaiza vorkommt wie ein Totenschiff, das immer nach Westen fährt, zu dem letzten Ruheort, wo die Sonne untergeht. »Niemand an Bord hatte ein Wort gesagt, jeder respektierte das Schweigen des anderen. So standen sie da und betrachteten noch einmal die Silhouette der Vulkane von Lanzarote, die langsam hinter diffusen Schleiern verschwand.«

So wird es wohl auch den Afrikanern ergehen, wenn sie, eingepfercht auf ihren schadhaften Booten, ihren Kontinent verlassen, Europa – und einem schweren Schicksal – entgegen. Yaiza denkt an das Lied, das die Schiffer anstimmen, wenn sie einen der Ihren zu zu Grabe tragen, hinüber auf die große Insel, wobei viele Fischerboote dem Schiff mit der Bahre folgen.

Mudos van e inmóviles los muertos,
la sombra de la vela les protege,
el mar se lamenta bajo la curva quilla,
y el sol marca el camino del Oeste.

Más felices seréis en tierra firme,
bajo los luminosos faros del Señor,
lejos de la calma chicha y la tormenta,
lejos de la eterna sed y del calor.

Rogadle a Dios que vuelva a por nosotros,
y que gobierne también nuestro timón,
cuando emprendamos el camino del Oeste,
en el callado barco de los muertos.

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Stumm und unbeweglich gehn hin die Toten,
der Schatten des Segels beschätzt sie,
das Meer beklagt sich unter der Linie des Kiels,
und die Sonne markiert den Weg nach Westen.

Glücklicher wärst du auf dem Land, dem festen,
unter den flammenden Leuchttürmen des Herrn,
fern von der Flaute und der Qual,
weit weg von dem ewigen Durst und der Hitze.

Bitte Gott, dass er zu uns zurückkehrt,
und dass er unser Steuerruder führt,
wenn wir den Weg nach Osten beschreiten
in dem Schiff voller Schweigen, dem Schiff der Toten.

Die Erde ist zu 70 Prozent von Wasser bedeckt. Der Fischer lebt gefährlicher als der Bauer, und das Boot wurde zur Metapher des Lebens selbst, der Lebensreise. Und einmal fahren wir hinaus mit unbekanntem Ziel. Horaz hat das vort 2000 Jahren in seiner Ode 2/3 beschrieben.

Divesne prisco natus ab Inacho
nil interesst an pauper et infima
de gente sub divo moreris,
victima nil miserantis Orci:

Omnes eodem cogimur, omnium
versatur urna serius ocius
sors exitura et nos in aeternum
exilium inpositura cumbae.

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Ob reich du, ein Sproß des uralten Inachos,
keinen Unterschied macht es, oder ob arm und
aus niederstem
Volke unter freiem Himmel du hausest,
Opfer des unerbittlichen Orkus:

Alle werden zum selben Ort wir gezwungen, für alle
wird geschüttelt in der Urne, um früher oder später
herauszuspringen, das Los, uns in ewige
Verbannung zu senden auf jener Barke.

 

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