Trügerischer Kerzenschein
Ich saß im Schladerer-Stübli, einer Ecke mit Kaffeemaschine im zweiten Stock des Staufener Altenheims, in dem meine Mutter nun lebt. Vor mir auf dem runden Tischlein brannte eine Kerze. Erst nach einer halben Stunde besah ich sie mir näher ― und war entsetzt. Der trauliche Kerzenschein war Betrug!
Was wie eine elfenbeinfarbene 15 Zentimeter hohe Kerze wirkte, war aus Plastik. Als Doch war eine Zunge aus Perlmutter an einem Draht befestigt, und vermutlich ein Magnetfeld bewegte seine Basis irgendwie zufällig, sodass etwas Blakendes entstand. Zudem blinkte das Ding, wie echte Kerzen es tun. Eigentlich muss man Ingenieure bewundern, die es schaffen, eine Kerze nachzuahmen. Ich las bei Fritz-Albert Popp, dass eine Kerze dem Leben schon ziemlich nahe käme: Sie holt Energie aus ihrer Umgebung, ist dabei flexibel und sensibel. Gleichzeitig ist man angeekelt davon, dass jemand versucht, so etwas Schönes wie eine Kerze zu simulieren. Das ist einfach mies. Das Produkt kommt übrigens von Pearl, dessen Outlet-Shop in Buggingen ist, von hier 15 Kilometer entfernt, direkt an der B3.
Ein vorbeikommender Koch sagte mir betrübt, die Bestimmungen seien so; nur auf diese Weise könne man etwas wie Atmosphäre herbeizaubern. Ja, je mehr die Leute haben, desto mehr Angst haben sie. Überall sind die Brandschutzbestimmungen verschärft worden, kleine Museen müssen teure Umbauten bewältigen, und da war vermutlich auch die Lobby der Brandschutzfirmen aktiv, die bei den ängstlichen Leuten offene Türen einrannten. Wir haben eine überreglementierte und damit zur Starrheit verurteilte Gesellschaft, die im Starrsinn verharrt.
Das Sicherheitsbedürfnis. Kürzlich kaufte ich im Edeka eine größere Kerze und fand aufgeklebt 12 kleine Piktogramme, die darstellen sollten, wie mit einer Kerze nicht umzugehen sei und wie man sie behandlen müsse. Die Edeka-Zentrale schreibt: »Zu Ihrer Sicherheit sollten Sie Kerzen nie unbeaufischtigt lassen. Beachten Sie bitte die aufgeführten Sicherheitshinweise.« Die Kerze ist offenbar ein gefährliches Instrument.
Man kann sich die Horrovisionen der Produzenten vorstellen: Jemand gibt die Kerze dem Hund zu essen, der Hund stirbt, und Konsument geht vor Gericht. Es sei nicht davor gewarnt worden, dass man die Kerze einem Hund nicht zu essen geben dürfe. Schadenersatz! Die Dummheit des Menschen ist etwas, mit dem man rechnen muss, aber die Gerichte belohnen Dummheit und Frechheit.
Wir werden immer häufiger mit Surrogaten abgespeist. Diese Gesellschaft, muss man auf zynische Weise folgern, kann eigentlich nur dünne Simulationen abliefern, und das Echte ist und bleibt verborgen. Moderne Liebesromane sind Lügen, wie es schon alte Liebesromane waren. Was uns umgibt und hinausposaunt wird, ist nur ein Ersatz für das, was es sein könnte. Die Leute merken gar nicht mehr, dass sie Unwahres für Wahres halten. Das Wahre ist im Exil; es ist ohnehin nicht zu ermitteln und unausdrückbar; das Tao, das man benennen kann, ist nicht das wahre Tao.
Auch auf den Friedhöfen leuchten elektrische Kerzen. Da hat nicht eine mitleidige Seele sich zum Grab bemüht, um mit kalten Fingern eine Kerze zu entzünden; nein, jemand hat im Supermarkt ein Ding mit Brenndauer 100 Stunden erstanden, 3,99 Euro, und das elektrische Gedenken ist fertig. Es ist schon eine traurige Zeit, in der wir leben.