Unsere fylgia

In diesem Jahr wird es viele Fahrrad-Beiträge geben. Ein Galopp durch die Mythologien dieser Welt (Galopp ist eine passende Metapher, deren Sinn gleich klar werden wird) kann Fundstücke zutage fördern. Das Fahrrad ist ja eine Art Pferd (Stahlross, Drahtesel), und es setzte sich auch an dessen Stelle. Früher hätte ich andauernd über mein Pferd geschrieben.

aug1995Tun wir uns also bei den Germanen und den Griechen um. Die Rune M (in Wirklichkeit ist sie nach unten hin verlängert – wie ein M auf Stelzen) steht für ehwaz, den Hengst, aber auch für Vertrauen und Loyalität. Der Mensch wächst mit seinem Ross zusammen, und es heißt: »Marr er manns fylgia.« Der Hengst ist das zweite Ich des Menschen (des Mannes). Die Fylgia tritt manchmal als Doppelgänger auf und macht sich bemerkbar, noch bevor der Mensch aufgetreten ist. (Illustration: der Autor 1995 am Col de la Madeleine, mit seiner Raleigh Foto: H. K.)

Im Runenforum Rabenbaum heißt es dazu: »Die Fylgia ist ein Geistwesen, oft in Tiergestalt, eine geistige Gehilfin oder Führerin, deren Hilfe immer freiwilliger Natur ist und die wie eine unsichtbare Seelenpartnerin gesehen werden kann. Im Prinzip hat jeder Mensch eine Fylgia in sich wohnen, diese muss man aber erst finden, damit ein Band zwischen Mensch und Geistwesen entstehen kann. Wenn ein solches Band einmal geknüpft ist, kann nur der Tod zur Trennung führen. Man hat dann seine Seelenführerin dauerhaft als Schutzengel bei sich und kann mit ihr auch kommunizieren.« Schön, dass in Italien das Fahrrad weiblich ist: la bicicletta oder bici. La bicyclette in Frankreich.

Elena und ihr Rad (2010)

Elena und ihr Rad (2010)

Eine irishe Touristin und ihre Rad (Breisach, 2014)

Eine irische Touristin und ihr Rad (Breisach, 2014)

Das Fahrrad ist zwar nur ein Gerät, dem wir aber eine Art Seele verleihen. Das intensive Beisammensein macht das Rad ein wenig lebendig, und man denkt an Flann O’Briens Buch Der dritte Polizist, in dem er Cyborgs vorstellt. Der Sergeant erklärt, dass »die Persönlichkeit von Menschen, die die meiste Zeit ihres natürlichen Lebens damit verbringen, die steinigen Feldwege dieser Gemeinde mit eisernen Fahrrädern zu befahren, sich mit der Persönlichkeit ihrer Fahrräder vermischt ― ein Resultat des wechselseitigen Austauschs von Atomen ―, und Sie würden sich über die hohe Anzahl von Leuten in dieser Gegend wundern, die halb Mensch und halb Fahrrad sind.«

Michael und sein Rad

Michael und sein Rad

Angelo und sein Rad

Angelo und sein Rad

Halb Mensch und halb Pferd: das ist der Zentaur. Der Pegasus ist das Dichterross, und so heißen auch manche Fahrräder. Juliet Sharman-Burke benennt in ihrem Buch über das mythische Tarot als Vertreter des fünften Trumpfs, des Hohepriesters, den berühmten Zentauren Chiron. Er wurde erzogen durch Sonnengott Apollo und Mondgöttin Artemis und bildete seinerseits Hippokrates aus. Chiron war ein Magier, ein Pontifex (Erbauer von geistigen Brücken), dessen Betragen lobenswert war in den Augen Gottes. Dennoch musste Chiron leiden, und zum wounded healer wurde er, nachdem er von Herakles versehentlich mit einem vergifteten Pfeil getroffen worden war. Er litt Höllenqualen, aber sterben konnte er nicht, weil er unsterblich war.

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Jan und sein Rad

Drei Balinesen und ihr Rad (2012)

Drei Balinesen und ihr Rad (2012)

Schließlich gibt der Zentaur seine Unsterblichkeit hin, um Prometheus zu befreien, der dem Menschen das Feuer geschenkt hatte. Chirons Zwischenzustand (Mensch/Pferd) deutet auf die beiden Anteile im Menschen hin, das Instinktive und das Verstandesmäßige. Wir müssen nicht alles kontrollieren wollen und können auch einmal dem Fahrrad die Führung überlassen. Meist weiß es, was gut für uns ist.

Kaum hatte ein guter Bekannter eine Rezension für mein Radsport-Buch verfasst, zu dem ich vor 2 Tagen »wenig los« geschrieben hatte, sprang es hoch: von Platz 64 bei Ebooks Radsport/Biken auf 18 und nun auf 8. We’re on our way to number one! Der Frühling kommt, die klassischen Eintagesrennen stehen vor der Tür, und das wird ein fantastisches Jahr!

 

 

 

 

3 Kommentare zu “Unsere fylgia”

  1. Regina

    Lieber Mandy! der Instinkt, würde ich vermuten, entwickelt sich durch die Evolution und die wird viel später erst verstandesmäßig erklärt, wenn das Rad schon längst bewiesen hat, wieviel Vorteile im Gegensatz zu anderen fahrbaren Untersätzen, es zu bieten hat… Liebe Grüße Gina

  2. web108

    Liebe Gina! Das Rad ist nur ein Ding und ein schwacher Ersatz für das Pferd, ein Lebewesen, das tatsächlich heimfindet, wenn ich nichts mehr weiß und das so vieles spürt. Als wir anfingen, Naturgeister wegzuerklären und Lebewesen durch Geräte ersetzten, ging es mit der Intuition bergab. Heute ist das schlichte Rad etwas, über das man kaum mehr spricht. Nun werden komplexe Maschinen gebaut, die nie die Komplexität des Lebens erreichen können … gleichzeitig ist die Spezies im Niedergang begriffen und weiß kaum mehr, was sie können könnte, und so wird sie vielleicht doch einmal überholt. Mit den Robotern wird die Welt vielleicht sogar besser! Liebe Grüße Mandy.

  3. Regina

    Lieber Mandy! Niemals darf es mit der Intuiton bergab gehen – sie ist das Wichtigste! Lieben Gruß Gina