Das Mädchen auf dem blauen Fahrrad

La bicyclette bleue – so hieß ein Taschenbuch in einer Kiste mit Altbüchern vor der salle de fêtes von Pont St. Esprit. Autorin: Régine Deforges (1935-2014). Ich nahm es mit und habe es nun gelesen: packend, elegisch, gefährlich ist es, einfach fantastique!  

011-12Die Fortsetzung muss ich nun auch haben. Sie heißt 101, avenue Henri Martin, spielt wohl in Paris, und ich las das erste Buch der Serie mit Begeisterung wegen der Hauptperson Léa Delmas, zu Beginn (1939, Ausbruch des Kriegs) 17 Jahre alt. Man kann ihr nur die zauberhafte und  rätselhafte Micòl zur Seite stellen, die in Giorgio Bassanis Il giardino dei Fionzi-Contini ihren Auftritt hat. Übersetzt ins Deutsche gibt es das blaue Fahrrad auch. (Und ich hatte ja von meiner Nichte ein blaues Fahrrad geschenkt bekommen, zwei Monate vorher, einen Pizzaschneider … zu sehen oben rechts.)

bicyclettebleueDas Rad taucht aber erst auf Seite 403 auf. Die deutschen Soldaten an der Demarkationslinie, die das besetzte vom freien Frankreich trennte, kannten Léa, die oft hin- und herfuhr. Sie nannten sie (auf Deutsch im Buch) das Mädchen mit dem blauen Fahrrad. Die mutige Léa transportiert Waren und auch Botschaften über die Grenze, versteckt unter dem Sattel, wie damals, 1942, auch der große Radrennfahrer Gino Bartali, der in Italien unter Gefährdung seines Lebens Kassiber (geheime Botschaften) und gefälschte Pässe auslieferte, getarnt als Rennradfahrer im Training.

Léa ist die Tochter des Weingutbesitzers Pierre Delmas in der Nähe von Bordeaux und hat zwei Schwestern. Sie ist in Laurent d’Argilat verliebt, dem sie ihre Liebe auch gesteht; doch Laurent will Camille heiraten. Der spöttische François Tavernier verliebt sich in sie, Mathieu Fayard auch, zwei Brüder lieben sie … und man muss dieses trotzige, selbstbewusste und animalische Geschöpf lieben, das sich mit allen, die sie lieben, auch in sexuelle Abenteuer stürzt, die von der Autorin deutlich, aber auch meisterhaft geschildert werden. (Régine Deforges bekam wegen ihrer erotischen Literatur, die sie auch schrieb, Probleme in ihrem Land.)

Das gibt dem Buch etwas Erdhaftes und hebt es von den blutleeren »Zeitromanen« ab, die diesen Aspekt gerne ausblenden. An Dramatik ist der Roman kaum zu überbieten. Laurent und Camille heirsten, der Krieg bricht aus, die Deutschen überfallen Frankreich, die Franzosen flüchten, sterben im Hagel von Maschinengewehren, hungern und hoffen.

Unterschlagen wird auch nicht die Collaboration der Franzosen – das Sich-Arrangieren mit den Besatzern, die Denunzation, die Bereicherung. Marschall Pétain errichtete eine Exilregierung und wollte sich mit den Deutschen gutstellen, während in London General de Gaulle zum Kampf aufrief. 1981, als das Buch erschien, war die collaboration noch ein Tabuthema. Man wollte die Franzosen als arme unterjochte Nation darstellen, die nur aus Widerstandskämpfern bestand, und auch in Italien gab es diese Tendenz. Dass es in Italien eine Art Bürgerkrieg gab (die resistenza gegen die deutschenfreundlichen Mitmacher), bis das Land zu den Alliierten überlief, blendete man gerne aus und feierte sich als Widerstandsland.

Léa rettet sich nach Paris, um Camille bei ihrer Niederkunft zu helfen, dann rollen die deutschen Panzer ein, und die junge Frau lenkt einen Wagen in Richtung Westen, um heimzukommen. Die Mutter ist bei einem Bombenangriff gestorben, Onkel Adrien, ein Dominikanerpater, unterstützt den Widerstand, und Léa hilft ihm. Und auf all diesen Wegen immer die Frage: Liebt Laurent sie auch, kann sie François lieben, was ist mit Mathieu, und kann Françoise ihren deutschen Offizier Otto heiraten, in den sie sich verliebt hat? La France et l’amour, wir kennen das, doch die Liebe verleiht dem Roman Würze und Spannung, mon Dieu, ein Franzose möcht‘ man sein!

 

 

 

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