Das Jahrhundertrennen (1)

Wann, wenn nicht jetzt? Bislang hat sich niemand für meinen Versroman Das Jahrhundertrennen interessiert, das um die Karlsruher Veranstaltung geht, die vor der Tür steht (25.-28. Mai): die Feier 200 Jahre Laufrad von Drais. Also »quäle« ich euch in 14 Ausgaben mit 80 Seiten meiner Geschichte, es muss sein!

Damit riskiere ich freilich, viele manipogo-Leserinnen und –Leser zu verlieren. Aber da niemand (wie mir alle vorhersagten) das Epos drucken will, veröffentliche ich es auf meiner Seite. Gratis! Reinzulesen lohnt sich, und man vergisst bald, dass es in Versen geschrieben ist. Es handelt sich um einen veritablen Roman und ein unterhaltsames Werk, das schwöre ich. — Und über 10.000 Abrufe (was jeden Monat mein Ziel ist) hatte manipogo bislang im Mai schon, alles Zusätzliche ist also eine erfreuliche Zugabe.

Neun Monate habe ich an dem langen Gedicht gearbeitet, von Juli 2015 bis April 2016. Es war erregend. Die Veranstaltung dauert in meinem Werk drei Tage; den letzten Tag – die Jenseitsreise – erspare ich euch; sollten die Abrufzahlen es rechtfertigen, liefere ich ihn nach. 80 gereimte Seiten sind ja schon genug. Es geht auch um die Liebe – zu Frauen auch (Rudi lernt die Zauberin Sue aus Haiti kennen), aber vor allem um die Liebe zum Fahrrad.

In fünf Ausgaben haben wir den ersten Tag absolviert. Jeder Tag endet mit dem Wort Sterne, weil Dante seine drei Abschnitte (Hölle, Purgatorium, Paradies) auch immer mit stelle (Sterne) enden lässt. Dialoge sind mit aabb gereimt, die Handlung geht mit abab voran, damit es abwechslungsreich bleibt, und wenn das Jenseits auftritt, treffen wir abba an. Abba! Es lebe die Verskunst, und nun hinein in die Tanz, hinein in

Das Jahrhundertrennen

VORWORT IN DER LANDSCHAFT

Der Fahrradhistoriker tritt auf und schiebt ein Laufrad vor sich her.

Achtzehnhundertsiebzehn, Mitte Juni, war’s, dass der Carl Drais
die erste Laufrad-Fahrt in Mannheim unternahm, wie jeder weiß.
Oder wie jeder wissen sollte. Zweiundzwanzig Kilo wog das Ding,
wie heut ein Pedelec, der Vorteil vor dem Pferd war noch gering.
Das Jahr zuvor war kalt gewesen, teuer wurde das Getreide
und der Hafer, teuer fast wie Samt und Seide.
Ein paar Vulkane waren ausgebrochen dort in Indonesien,
der Ascheschleier hielt die Sonne fern von Baden und von Schlesien,
von ganz Europa! Überschwemmungen, Missernten! Menschen starben
vor Hunger, viele Pferde auch; es mussten alle schrecklich darben.
Man suchte eine Lösung für Transport und für die Fortbewegung,
die individuell und einfach war, und Draisens Überlegung
führte zu der Laufmaschine, die man bald vielerorts verbot,
bis dann die neue Eisenbahn die Drais-Erfindung vollends machte tot.
Sie war ja noch kein Fahrrad, doch sie war das Fundament,
wie Smartphone und das Internet, wie man sie heute kennt,
undenkbar sind ohne den ersten Großcomputer nach dem Krieg,
der einen ganzen Saal einnahm und ratterte und stöhnte, wieder schwieg.
Fast fünfzig Jahre dauerte es dann, Drais hat’s nicht mehr erlebt,
bis jemand,ein Franzose, hat Kurbel und Pedale an das Vorderrad geklebt.
Mon dieu! (Woanders steht, ein Schotte habe bereits siebzehn Jahre später
eine Kurbel anmontiert. Wer war nun der Täter?
Doch für Kirkpatrick Macmillan, das zeigen die Recherchen,
spricht nichts. Es war Michaux! Lasst Fakten herrschen!)
Das Vorderrad blähte sich sodann gewaltig auf,
das Hochrad startete zehn Jahre seinen Siegeslauf,
bis dann aufkam die Kette, und zwei Pedale wurden mittig angebracht,
um achtundsiebzig, revolutionär war das, so war es auch gedacht,
und half, dass achtzehnfünfundachtzig unser Rover Safety kam
mit nun gleich großen Rädern; es war sicher, wenngleich etwas zahm,
und achtzehnachtundachtzig folgten Dunlops Reifen, voll mit Luft gepresst,
und nun gab es das Fahrrad, es ging los, es war ein Fest!
Der Fahrradpneu war wichtig auch fürs spätere Automobil,
den „Patentmotorenwagen“ von Carl Benz: aus Karlsruhe, wie Drais, und viel,
fast alles stammte aus der Fahrradproduktion. Das Auto gäb es ohne
das Fahrrad nicht, wie dieses nicht ohne das Laufgerät, und belohne
uns, o Herr!  Nein, diese Kisten, die die Welt verpesten und zerstören,
vermehrten sich ganz ungehemmt, wer will die Klagen hören?
Wir trafen uns, um für ein Wochenende eine Fahrradwelt zu bauen,
wie sie denn wäre, ganz im Geist des Rads, man muss sich trauen.
Das ist schon lange her, und lang habe ich recherchieret
und, um herauszufinden, wie das war, hunderte Gespräch geführet.
Zweitausendsiebzehn war das Treffen, und nun sind wir gescheiter.
Das Treffen und das Rennen waren legendär, vor allem heiter!

Fahrradhistoriker ab.

ABEND UND ERSTER TAG

Pål Janssen gibt noch einen Kuss der treuen Frau,
dann steigt er in den Volvo, der sein Hochrad und sein Kleinrad birgt.
Der Motor springt gleich an, klingt hungrig und auch etwas rau.
Pal ruft etwas, das „Ich lieb dich“ heißen könnte, und er wirkt
gelöst und konzentriert zugleich. Zweitausend Kilometer
Warten auf ihn, durch Schweden, Dänemark und deutsche Lande,
was mit dem Rad, für einen eisernen Hochrad-Pedale–Treter
wohl einen Monat dauernd würde, sag ich nur am Rande.

In Bratislawa, Slowakei, bemüht der Ludwik Stich den Škoda
mit Anhänger, zwei Räder drin, denn seine Frau fährt mit.
Er fährt dann gegen Westen, quer durch Bayern oder
gleich hoch, er hat ja Navi, und auch bei ihm gilt jeder Tritt
dem Gaspedal und nicht dem Pedal des Rades.
Das Wetter ist heut mild und kühl die Nacht, doch nicht bequem
der öde Campingplatz von Backnang, der gleicht fast einem Hades,
von der die Navi-Stimme fort sie führen soll: zunächst nach Bethlehem.

Auf vielen Flughäfen in zehn Ländern dieser Welt,
sitzen auf Plastikbänken Veteranenradler, um die dreißig.
Sie hocken rum wie andere, Durchsagen erwartend, hocken wie bestellt,
aber nie abgeholt; dann geht’s zum Gate, die Busse fahren fleißig.
Hochräder sind nie Handgepäck, man muss sie gut verpacken.
Und dreißig beten, dass die alten Fahrgeräte bleiben ohne Schaden,
während sie dann in die Businessklasse-Flugzeugsitze sacken.
Zielort ist immer Frankfurt, dann weiter Karlsruhe; nicht Baden-Baden.

So kommen sie von Kiew, Wien, Tokio, New York, Djakarta, Abu Dhabi,
während, wer näher wohnt, auf seine alte Mühle steigt und fährt nach Plan;
ein anderer sein Rad und das Gepäck hineinpresst in den Trabi,
ein Dritter alles einlädt in den Zug und alles überlässt der Deutschen Bahn.
Zweihundert Teilnehmer sind registriert, sagt ein erschöpfter Terry Twain,
der Vorsitzende des Veteranen-Velo-Hauptverbandes, zu Siegfried Staller,
der dort in Karlsruhe ist mit der Organisationsarbeit versehn
seit einem Jahr und noch erschöpfter wirkt, der Ansprechpartner aller.

Es ist ein Großhotel am Rand der Stadt, in der die beiden wartend hoffen
Und spähen nach den Ankömmlingen, von 13 bis nach 19 ist Anmeldefrist.
Ein Sponsor hat da mitgeholfen, und ein Buffet steht baldigst offen
den Veteranen. Und mit dem Vespa-Roller kommt ein Journalist.
Ein Bentley fährt dann vor, Carl Reuss steigt aus, der Sponsor und Mäzen
und schüttelt Twain und Staller gleich die Hand, der Erbe vom Konzern
Delavre und Kapott, die machen was mit Digital, und kennt man den?
Drei Helferinnen tauchen auf, ja, Frauen, für die Arbeit: Sieht man gern.

Der Blick geht weit ins Tal hinunter, das geometrisch schön gestaltet ist.
Quer geht ein Bachlauf, hübsch gesäumt von Weiden, Waldstücke
stehen mittendrin im Tal wie kleine Inseln, man vermisst
nicht mal ein Dorf. Ein See liegt in der Ferne, und in der Lücke
zwischen ihm und einem Wald sieht man so weiße und auch grüne Flecken
und Punkte, und das ist, zeigt Twain dem Sponsor Reuss mit seiner Hand
der Campingplatz vom Alten See, wo man schon kann entdecken,
dass andre  Punkte – Menschen sind’s auf Rädern – sich nähern übers Land.

„Dort sind bald alle“, flüstert Staller, „Ist für drei Tage unser Paradies.
Sie kommen, um sich anzumelden. Hotel ist nichts für Fahrradfahrer,
die wollen Freiheit, denn Nomaden sind sie, und die Stadt ist ihnen ein Verlies.
Nur wer die Straße liebt und auch das freie Leben, ist ein wahrer
Veteran der Piste. Hinter dem Horizont geht’s runter zum Rhein,
da ist sehr viel Gestrüpp, da sind gewundne Pfade, die wir mit gutem Tritt
für Ausfahrten nutzen können. Unser Century-Rennen, das wird sein
in diesem Tal, acht Runden zu je zwanzig Kilometer: Wird der Hit!“

Peter Rogoff ist beim Nordbadischen Kurier freier Journalist.
Trägt Vollbart und ein Bäuchlein, auf dem Kopf die Kappe mit dem Worte Kuba.
Fuhr früher Ente. Er, der auch mal Hausbesetzer war, nun Hausbesitzer ist.
Mäht auch mal Rasen, redet mit dem Nachbarn und findet alles immer super.
Er macht die ersten Fotos, kriegt ein Gläschen Rum, es lebe die Revolution!
Der erste Fahrer hat sich rangekämpft, Teagarden Stanley mit dem Sunbeam
Von neunzehnsiebenundzwanzig, der Fahrer zwanzig Jahre jünger, Sohn
eines Minenarbeiters, Wales; Staller sagt: gebt gleich die Unterlagen ihm!

Er kriegt die Startnummer, die einundachtzig, und auch ein großes Bier.
Dutronc Jacques, nicht mal dreißig, Schnurrbart, ist der nächste, mit Peugeot,
es ist ein Renner aus dem ersten Krieg, Twain streichelt seinen Sattel und sagt: „Wir
sind voller Hochachtung, ein schönes Stück“, dann dreht er sich um und sagt hallo!
Das erste Hochrad, Louis Dreher, Appenzeller aus der Schweiz, und elegant
springt er von seinem Fahrzeug ab und salutiert und steht wie ein Soldat.
Auch er nimmt seine Unterlagen, die Essensbons, das T-Shirt, und aus seinem Land
folgen noch mehr, Frauen und Männer, und jeder hat ein feines Rad.

Doch lassen wir die Teilnehmer sich erstmal registrieren. Vor dem Hotel
da sammelt langsam sich ein ganzes Radmuseum an: hundert Jahre
Radgeschichte in hundert Exemplaren schon um vier, so schnell!
Rostrot leuchtet dort das Haupt von Cranston Loggle, „o bewahre“,
stöhnt die Sibylle, denn sie kennt den alten eitlen Hochradcrack,
der zielsicher den Journalisten Rogoff anvisiert und ihm posiert,
viel auf- und abfährt, und Sybille flüstert: „So ein Geck, er tut das zu dem Zweck,
um morgen im Kurier der Star der Show zu sein, ja, garantiert!“

Wälti, Claude und Peter, alle bärtig, aus dem Kanton Appenzell,
doch Ausserrhoden, Halbkanton, betonen sie, stehen in Eintracht
um einen Tisch, auf dem ragt auf als geistig-heller Quell
die Flasche Weißwein, dann kommt hinzu die Elsbeth, in der bäuerlichen Tracht.
Dutronc, der Lustige, und seine Freundin Natalie, die Schöne aus Paris,
und Pierre Latigue und Sofia Komorowna sind derweil bei einer Flasche rotem Wein
am Tische nebenan, prosten auch den Schweizern zu, und bald sind alle sich gewiss,
dass diese Tische man zusammenschieben muss. Verbrüderung soll sein!

Um 19 Uhr sind es zweihundert und noch ein paar weit’re Recken,
die gleich ihr Abendessen kriegen, und der Präsident sagt ein paar Sätze,
dass heut der Geist von früher unter ihnen sei, man muss sich nicht verstecken,
das Fahrrad existierte und hat heute seinen Platz, ja, auf dieser Welt so viele Plätze.
Mit Muskelkraft sich fortbewegen war der ursprüngliche hohe Plan,
den Menschen wohl getreulich hätten umgesetzt, der Motor musste stören,
wir Radfahrer sind friedlich, freundlich, fröhlich, und der Autowahn
wird einmal enden, und einst werden wir siegen, man wird uns erhören!

♪ ♪ ♪ ♪ ♪

Der Fahrradhistoriker untersucht sein Laufrad, als ein Mann mit Piratenhaube von links kommt und ein Rennrad mit sich bringt. Er stellt sich auf und spricht.

Das ist ein schöner Traum, das sagt euch Marco, kommend von weit her,
der seltsam findet diesen Einsatz hier von Poesie,
gemessen an der Härte unsrer Welt, die nie
sich reimt. Doch denkt an Dante! Darum spiel ich mit, ist nicht zu schwer.
Ich habe euch ein paar harmlose Radler mitgebracht,
und wir sind alle hier, in einem großen Zelt
am Ende eures Platzes und am Ende eurer Welt.
Die Anreise war hart und hat uns dennoch Mut gemacht.

Mahmud haben wir aus Kairo, der mit einem schlimm eiernden Zweirad
Getränke und auch Süßes an die Leute bringt, quer durch den Souk,
Bellaire, Uganda, mit den bunten Kleidern und dem Zöpfchen-Look,
die aus dem Dorf zur Schule fährt und stets ihr Schwesterchen dabeihat.
Mahindi transportiert als Rikschafahrer in Jaipur,
zehn Stunden täglich Leute, ihr müsstet seine Schenkel sehn!
Sein Herz ist stark , die Laune doch nicht immer gut, ihr müsst verstehn,
dass er mit seiner Plackerei das Nötigste zum Essen sich verdienet nur.
Wladimir, Lehrer aus Tscheljabinsk, kommt mit dem Rad zum Arbeitsort.
Steve, Fahrradkurier in New York, ist mit dem Fixie täglich in Gefahr,
was Sue, die Zauberin aus Tahiti, schon viele Mal durch Geister war.
Sie fährt zum Friedhof mit dem Rad, und nicht zum Sport.
Die andern könnt ihr kennenlernen. Wir warn nicht eingeladen.
Ihr fahrt zum Spaß und nennt das Individual-Mobilität, wir sagen nur:
Das Fahrrad ist für uns die Rettung, die Bewegung, Leben, Freiheit pur.
In Kairo und Karatschi, in Kuala Lumpur oder hier in Karlsruhe, Nordbaden.

Volkswagen baut und verkauft im Jahr schon zehn Millionen Automobile,
Toyota neun, da werden wir erdrückt, es herrscht Gewalt,
Automobil steht für die Macht, die niederfährt, was zierliche Gestalt
und bricht, was schwächer ist. Es ist ein Krieg, es sterben viele.
Eine Million Menschen sind‘s in einem Jahr, so teuer ist Motor-Mobilität
Und ihr, ihr feiert seelenruhig die Geschichte, fahrt mit alten Kisten
und angetan mit uralten Klamotten auf abgesperrten Pisten,
und redet dauernd über Räder in eurer schönen Sozietät.
Stellt euch doch mal auf eine Brücke über einer deutschen Autobahn,
am Nachmittag um fünf an eine Straße in Affoltern, in Nairobi,
oder in Kassel auf den Parkplatz vor dem Baumarkt Obi,
dann lernt ihr was, was ihr nicht wisst, vom aktuellen Autowahn.
Das ist ein Wort von Marco: Manila, Bangkok, Tokio, Mexiko-Stadt,
sie zeigen euch, wer in diesem Spiel, in dieser Welt wohl triumphieret hat.

Marco verabschiedet sich.

Der Fahrradhistoriker reibt sich die Augen

„Mir ist so komisch, war da nicht grad eine blasse Gestalt?
Ich habe nicht genug getrunken, oder ich werd alt.
Mir kamen da soeben Bilder, fast waren es Visionen
Von großen Städten, wo ich niemals wollte wohnen.
Da drüben ist schon das Hotel, ich muss mich sputen,
denn alle sind schon registriert, muss ich vermuten.
Los, auf mein Laufrad, und ein kühles Bier
Verscheucht die bösen Geister und hilft mir.“

Im Bankettsaal des Grand Hotels stehen wohl ein Dutzend Tische,
die beiden Schlangen am Büffet, das Twain eröffnet hat, ist lang,
denn keiner will, dass ihm das gute Essen denn entwische.
Zweihundert Mäuler, und wer Hunger hat, ist bang!
Freddie Wouters, Chef der Belgier, spricht mit Dorothy Tillingham,
der Präsidentin kurz vor Twain und vielleicht wieder nach ihm,
nun kommt auch Bykow Fjodor, der englisch spricht und dem
die Leute hier nichts sagen, da neu er ist im Veteranenteam.

Eine Begegnung

Dorothy sagt: „Hier herrscht ein Durcheinander, herrscht Chaos hoch drei,
und du, Fjodor, wirst die Leute kennenlernen, das hier geht vorbei.
Da vorn sitzen die Deutschen, zehn, wie immer ernst und eigentlich,
dahinter gleich Franzosen und auch Schweizer, ja, die kennen sich,
trinken gern Wein, vergessen ihren Alltag und haben viel Spaß.
Da links sitzen die Skandinavier, und Vladimir, ich sag dir was:
Der eine redet Dänisch, der andere antwortet Schwedisch,
der Norweger versteht sie beide, ein höchst interessanter Sprachentisch.
Es gibt drei Balinesen und vier Teilnehmer vom fernen Orient,
aus Abu Dhabi, Fahrrad statt Kamel, und dahinter, dort am End
der Tafel, sitzt Larry Wanton, Kanada, mit seiner Hochradgruppe,
gekommen in ner Gänsefahrt aus Frankfurt, eine edle, eingefleischte Truppe.
Wer noch? Belgier und Holländer, die Ungarn sitzen stets für sich,
da gibt’s ein Sprachproblem, doch morgen ist ein Übersetzer da, der dich
mit Radfahrern aus Buda und aus Pest zusammenbringen will.
Es gibt auch ein paar Engländer, die sind sehr vornehm und sehr still,
solange sie bei Tee sind, doch nach dem ersten Quantum Bier
werden sie lebhaft, ich bin sicher, sie gefallen dir!
Was für ein Lärm, kaum kann ich hier verstehn mein eignes Wort,
komm, Fjodor, ja, wir trinken auch, aber nicht hier, wir gehen fort.
Siegfried holt uns eine Flasche Wodka, und in meiner Suite,
aus der man schön über das ganze Land hinsieht,
da können wir in alle Ruhe zechen.
Ich glaube auch, wir haben vieles zu besprechen.“

Alle haben vieles zu besprechen, sie schreien und krakeelen.
Man hat sich lange nicht gesehn, und man freut sich übermäßig.
Radfahrer sind, wenn man so sagen kann, sehr nette Leute, gute Seelen,
Wer Räder liebt, liebt auch das Leben, die Natur, hat Hunger, ist gefräßig.
Am deutschen Tisch spricht Sascha Karmann übers Wetter.
Gerlinde, seine Frau, liegt ihm im Arm, hält sich die Ohren zu,
weil es so laut ist. Gottlieb Stellmach hat vor sich die Blätter
mit Rennstatistiken und liest daraus und weiß partout,
dass sich die Strategie von Sky auch bei der nächsten Tour erfüllt.
Der achtzigjährige Ernst Wunder wankt hinaus zum Rauchen,
wo der Zigarrenqualm schon Jacques Dutronc einhüllt,
und neben ihm steht Natalie, bereit, auch was zu schmauchen.
Die Luft tut gut, ein Holländer meint, das sei sehr ungesund,
worauf Dutronc ihm vorträgt, dass Maurice Garin (er sagt: Garän)
auf seiner Frankreichrunde neunzehnhundertundfünf in jeder Stund
beim Radeln die Zigarre rauchte; und er trank viel Vin (so sagt er: Vän),
den roten vom Burgund, von dem hatte er stets ne Flasche
dabei, und er fuhr schnell, der Rauch zeigt‘ an, wo Maurice war,
mit der Bouteille in seiner linken Jackentasche,
und war das Doping? Er gewann, obgleich in jenem Jahr
die junge Tour, zwei Jahre alt, unter vielen Betrügern litt,
die viele Kilometer, was verboten, fuhren mit der Eisenbahn,
und andre gab‘s, die streuten Glas, Reißzwecken und Splitt,
um Kontrahenten bös zu stoppen, die Tour schien fast am Ende dann.

Wer wieder reingeht in den Saal, vergeht fast in dem Lärm.
Jacques sagt zu Natalie: Das ist kaum zu ertragen,
wie gern wär ich mit dir nun in Auxonne auf unsrer Ferme,
dem Bauernhof, wo nur zehn Hühner mit den Flügeln schlagen.
Doch es herrscht Freude, herrscht Begeisterung,
beflügelt durch den Alkohol, hoch ist der Pegel
der Kommunikation, schon gibt’s vorschnelle Einigung
und Augen, die sehr glänzen, Wunder zitiert Hegel,
doch niemand versteht: das Zitat rasch untergeht
im Brausen vieler vieler Stimmen.
Doch langsam sinkt die Glut, der Rausch verweht,
der Abend muss langsam verglimmen.

Und leergeräumt ist nun das einst so stattlich aufgetürmte Festbüffet.
Die leeren Flaschen stehen planlos ratlos massenhaft herum,
die Gäste wanken langsam raus, in Gruppen, schnappen sich die Räder, eh
sie die zwei Kilometer fahren, dünn beleuchtet, lachend, drum
dauert es länger, bis sie im Camping am See anlangen,
Twain und Reuss, Staller und Rogoff schauen gebannt
Von oben zu gleich Erzengeln, wie zwei zittrige konfuse Schlangen
Sich schwankend vorwärtswinden, langsam übers stille Land,
begleitet wie von Glühwürmchen: den Lichtern, die mal glimmen,
dann strahlen, blinken, schwanken, und man hört ihr Lachen durch den Raum,
hört Sätze dumpf in vielen Sprachen, viele fremde Stimmen …
Twain wischt sich eine Träne fort und sagt: „Ach, ist das nicht ein Traum?“

Der Campingplatz am See kann, wenn er leer ist, traurig sein.
Er ist zwar voll, quillt über fast von Wohnmobilen und von Zelten,
aber so still und dumpf! Das Bier und auch der süße Wein
lassen die Platzbewohner länger weilen in des Schlafes Welten.
Um neun geht’s in den Waschräumen dann zu wie in nem Taubenschlag,
wie Schlafwandler machen sie ihre Toilette, trinken dann Kaffee,
allmählich öffnet sich ihnen der zweite (oder erste) Tag,
den krönen soll der frühmittägliche Teilemarkt am See.

Hotel: Am frühen Morgen, gegen sechs, sieht ein verschlafener Rezeptionist,
die Dame, die die Suite fünfhundertzehn bewohnt, am Körper leichte Sachen,
aus dem Hotel sich schleichen, barfuß, gehn ums Eck, das laute Klirren dann ist
wie ein Weckruf, und sie kommt zurück, ist ja ein Gast, was kann man machen.
Fjodor oben dreht sich um, sieht sie wild an und breitet aus die Arme.
„Was fiel dir ein, nun Flasche weg, komm doch ins Bett, ins warme.
Ich dachte, nur die Deutschen sind von Ordnung so besessen.
Lass uns den Glascontainer für die nächste Runde mal vergessen.“
Dorothy schmachtet: „Schön war das, ja, du kannst vielleicht noch mehr.
Ich brauchte etwas Abkühlung, mir fehlt das Meer.“
Er flüstert: „Du warst draußen, bringst die Morgenluft herbei,
und das Beweisstück, diese Flasche Wodka, ist ja nun entzwei.
Dein Körper bebt, und ich muss sagen, das erregt mich sehr,
mehr als ein altes Hochrad, mehr als die Nabe von Vermeer,
mehr als das berühmte Rover Safety, John Kemp Starley,
mehr als die Federung der achtundvierz’ger Harley.
Geradezu verliebt und schmachtend ich hier vor dir liege,
an deine Rundungen ich mich nun wollüstig schmiege!“

Fortsetzung morgen mit dem Teilemarkt.

 

 

 

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