Das Jahrhundertrennen (5)

Der letzte Teil des ersten Tages in Karlsruhe. Rudi und Steisbein unterreden sich über das Fahrrad, das ist sehr poetisch, und dann wird es romantisch, weil Rudi von einer Verehrerin in das Begegnungszelt eingeladen wird, und zum Glück lässt er sich darauf ein. Wir wollen ihm einmal etwas Ekstase gönnen! Und am Ende funkeln alle Sterne.

Party

Rudi dreht sich um: Da strömen schon vorbei die ungeheuer vielen
jungen Leute, schieben sich vorüber an der Bühne eins, die Raga-Meister
aus Mumbai, die an Tabla und Sitar begeisternd spielen,
ignorierend; bald stehn sie eng und zäh wie Kleister
vor Bühne zwei, es können rund zweitausend Menschen sein.
Dort oben steht, bärtig mit Kopftuch, Deejay Pablo Burrito
von der Philippinen und schaltet die Geräte ein.
„Die Show geht los, verrückt und grenzenlos, capito!“
bellt er, und schon flutet los und pumpt sich der Elektro-Wave
über die Menge, die langsam sich in Schwingungen versetzt.
Sie wiegen sich und sind in Trance, es ist ein guter Rave,
die Inder nebenan schauen sich an, sie sind entsetzt
und packen kleinlaut ihre Instrumente ein, derweil
rote Lichterwellen über alle Köpfe tasten,
blaue Laserstraßen blitzen wie ein vieldimensionaler Pfeil,
Rauchsäulen aufsteigen und als Nebel über allen Tänzern lasten
und dabei tobt und pocht und klopft und röhrt der Pablo-Speed,
der allen in die Glieder fährt und sie zum Tanzen zwingt.
Der Chef steht oben, schraubt und dreht an Schaltern, und er sieht
hinab zu seinen Jüngern, lächelt groß und weiß, es klingt
mal wieder ganz grandios, und dieses Energieniveau
wird er noch halten können fast zwei Stunden, kann er blind.
Graugrün ist nun das Licht der Show,
die Masse schwankt und schwappt wie Meer, bewegt vom Wind.

Ein kleiner Mann sitzt auf der andern Seite dieser Wasserfläche
auf einer Bank, neben sich die Flasche mit dem roten Wein.
Ein andrer kommt, ein Mann, der hat eine gewisse Schwäche
für den einsamen Fahrradwissenschaftler, Herrn Steisbein,
und setzt sich wortlos, lächelt, hat ein Gläslein mitgebracht
und schenkt sich, ohne erst zu fragen, aus der Flasche ein.
„So aus der Ferne sieht es aus wie eine große Schlacht“,
sagt Rudi, „wie Königgrätz und Austerlitz, ich hab es mir gedacht,
dass Sie das wie ein Feldherr gern von einem Hügel sich beschauen,
und sich nicht unter die tausend Tänzer trauen.“
Steisbein strahlt, sie prosten sich gleich zu,
und der Gelehrte meint: „Sagen wir du,
Karl Heinz bin ich, und wo ich bin, über das Fahrrad denk ich nach,
über das ich heute fast zuwenig sprach.“

„Nur zu“, ermuntert Rudi, „ich lerne immer gern dazu,
auch mir lässt unser Fahrrad keine Ruh.
Hohe Gedanken sind immer vonnöten;
wenn man sie nicht ausspricht oder aufschreibt, gehn sie flöten.
Ich bin Rudi, hier ist meine Hand.
Wie schön, der Pablo-Sound, wie schön, das ganze Land.“
Steisbein zögert, dann: „Zwei Laufräder stehn für die beiden Zeilen,
die im Gedicht bilden den Reim, das Rad ist nicht zu teilen,
ist ein Duett, wie’s sind im Menschen Seele und der Geist.“
Rudi nickt und überlegt. „Darum hat recht, wer preist
das Fahren mit dem Rad; es ist ein selig Schweben,
das ähnelt unsrer Fortbewegung in dem andern Leben,
dem nach dem Tod, in dem astrale Körper gleiten
und Engel auf den Wolken, wie getragen schreiten.
Wer’s liest, wird eines Tags es sicherlich erfahren,
drum können wir es uns ersparen,
Beweise aufzuführen. Wer Rad fährt, ist bei sich,
erfährt die Welt, blickt weit, erwartet eigentlich
die Ankunft, die Erlösung, die er, fahrend auf dem Rad,
ohne es zu wissen, schon erfahren hat.
Das sag ich nur zu dir, es klingt wie Religion
und ist es auch, in meinem Leben ist’s meine Mission,
das Leben nach dem Tod in die Erinnerung zu rufen.
Auch hinterher geht’s weiter, über viele Stufen,
doch bleiben wir für heute mal in unsrer Welt,
in der wir sind, ob uns das nun missfällt oder gefällt.
Das Fahrrad hat mir, ich bin‘s gewiss, das Leben schon gerettet,
denn es kann Lebensinhalt sein, es viele Sorgen glättet.“

Steinbeis führt aus: „Alles das, was nach dem Fahrrad kam,
war irrig oder schädlich, einfach schlecht; ich sag’s mit Scham:
Warum das Fahrrad wir früher nicht erfanden?
Das Rad war ja schon bald bekannt, wir standen
kurz vor dem Durchbruch … aber nein,
zwei Räder, plus die Muskelkraft: Es sollte wohl nicht sein.
Gut, trotzdem wären wohl in Kriegen, wo wilde Horden
aufeinander trafen, genauso viel Soldaten hingemordet worden,
doch sicher wären keine Pferde auf Schlachtfeldern verendet,
hätten Soldaten für den Kampf nur Fahrräder verwendet.
Man hätte ihnen schon sehr bald die schönsten Straßen hingebaut
und auf den Fortschritt der Zivilisation vertraut –
der sich im Motor dann schrecklich erfüllte,
welcher die Welt verunstaltet und sie in Qualm einhüllte.
Er half der Hausfrau und in vielen Dingen, das war gut,
jedoch beschleunigt er das Wirtschaftstreiben bis zu wilder Wut.
Man hat etwas entfesselt, das bis heute weitergeht
und in dessen Banne heute auch das Fahrrad steht.
Elektroräder! Wir haben froh ins Herz geschlossen
den Motor, unsren größten Feind, und so zerschossen,
was uns von der Motorenwelt so gründlich unterschied.
Nun sind wir schneller, fahren weiter, singen aber auch das Lied
derer, die immer schneller immer weiter wollen, das der Optimierer,
sind vornedran und zugestopft mit Technik – und irgendwie Verlierer.“

Das kann man so sehen, muss es aber nicht. Es ist ein Austausch.
Rudi weiß, dass es ist falsch, geht trotzdem eine zweite Flasche kaufen.
Dazu ein Wasser, und so wird es nur ein Halbrausch,
den man kaum spürt. Sie sehn dort drüben viele laufen,
oder ist es mehr ein Strömen, ein Wegzug der Menge?
Die Musik ist versiegt, die Lichter sind verglommen,
viel Raum ist, wo vorher war drangvolle Enge,
die sich verlagert ins Begegnungszelt, in das gekommen
sind die Paare, die beim Tanze sich gefunden,
und sich im Zelt umschlingen mit der Kraft, die ihnen blieb.
Sue, die Magierin, achtet drauf, dass keines bleibt zwei Stunden
und dass nicht ungewohnte Ausmaße annimmt der Trieb.
Draußen ist die Sommerwiese ganz zerstampft,
und Flaschen liegen rum und außerdem auch viele Schuhe,
der Discorauch und aller Schweiß sind rückstandslos verdampft,
denn elf Uhr ist es, Schlafenszeit am See, es herrscht selige Ruhe,
die die Wahrsagerin Miranda braucht zum Legen ihrer Karten,
und vorher hat sie mitgetanzt, wer wollt es ihr verwehren?

Sie wusch sich dann und zog sich um, Klienten zu erwarten.
Pablo nebenan trinkt Rum und scherzt mit Mädels, die ihn sehr verehren,
die Inder nehmen sich das letzte Wort und spielen eine Einschlaf-Raga,
begleitet von einem Schattenspiel aus Bangla Desch:
Geschichten aus der Bhagawad-Gita-Saga,
Miranda sagt dem ersten Kunden: Ist nicht teuer, aber – bitte cash!
Dem dritten Kunden sagt sie: Lass es sein, das kostet nichts.
Warum? Schon als Stan Teagarden hereinkam, war sie deprimiert
und sah ihn eingehüllt in eine Spreu des grauen Lichts,
Beamter im mittleren England, gut, so war sie orientiert
und legte ihre Karten aus und hielt den Atem an:
Der Turm, in den der Blitz einschlägt, der Tod, und der Gehängte,
geballtes Elend, und das hieß, dass man nur eines sagen kann,
und bleich wurde Miranda, ihr Ergebnis sie bedrängte.
Sie sah Stan Teagarden und sah klar seinen Tod.
Da gab es keine Rettung mehr, so sehr sie einen Ausweg suchte.
Am Tag des Rennens würde es geschehn, das startet man im Morgenrot.
Miranda stammelte und redete sich raus. Die Karten sie verfluchte.

Rudi und Steisbein schlendern um den Teich.
„Komisch“, sagt der Wissenschaftler, „als damals ich war jung,
da hatt ich keine Zeit und fühlte mich gehetzt. Jetzt bin ich reich
an Zeit, alles ist offen, obgleich mich nur ein kleiner Sprung
trennt von der Ewigkeit. Ich weiß, das Leben ist absurd,
doch lieb ich es, auch wenn ich einer bin, der schimpft und murrt.
Es gibt ja viele, die es nicht in Frage stellen,
und sollte ich über mein ungeheuer langes Leben denn ein Urteil fällen?
Ich sage nichts; und euch wird jemand diese Rätsel bald erhellen,
wenn ihr im Licht steht und wenn weiße Wolken quellen.“

Rudi sagt: „Das Böse ist ein Rätsel. Heute wurd ein Attentat
mit knapper Not vermieden. Der Staat der Islamisten hat
drei Leute hergeschickt, die Menschen wollten töten.
Sie dachten, dass sehr viele Opfer böten
einen Beweis für Gottes Unterstützung ihrer Sache.
Gottes Wille! Gott! Dass ich nicht lache!
Da haben sie Ende September letzten Jahres,
ich glaub in Dacca, Bangladesch, da war es,
einen Italiener, den alle mochten und der Armen half, und
als er im Diplomatenviertel joggte, erschossen wie nen Hund.
Gott sieht uns zu, doch lässt er uns die freie Wahl,
uns gegens Böse zu entscheiden ein für alle Mal.
Doch wie geht das, ohne nicht selbst böse und gemein zu werden?
Wie schaffen wir Verständnis, Toleranz und Liebe auf der Erden?“

So gehend sind sie endlich angelangt am Zelt, in dem Miranda
Graciosa de Campos gerade Stan, der traurig wirkt, wegschickt.
„Ich werde eine Panne haben“, sagt Stan. Sie sehn einander
an, Miranda hat sich unterdessen weggedreht und kurz genickt.
Auf der plattgetanzten Wiese ist es still: ein Moment der Ruhe.
Ein Moment? Ach was, ein Monument der Ruhe und der Einkehr,
auf freiem Feld vor der Kopulations-Begegnungstruhe,
und anders als dort drinnen vor den Bühnen: kein Verkehr.
Vor dem Verkehrszelt stehen ruhig Bellaire, Nur und Sue,
wie die drei Schicksalsgöttinnen, nicht ungefährlich
und plaudern, lachen, sehen zu,
wie sich mit Schritten leicht beschwerlich
Twain, Staller, Bykow und die Tillingham sich nahen,
die haben viel Exotika, flüssig und auch fest, genossen,
wie viele Multikultigäste sahen.

Rudi und Steisbein treffen sie, und letzter sagt unverdrossen
trotz ihres vielen Weins: „Liebe, Toleranz, Verständnis – wie?
Lernen die Menschen friedliches Zusammenleben nie?
Wir sechs, ach nein, wir neun, und überhaupt: wir alle
haben das Rezept. Nicht wahr? In jedem Falle
besitzen wir das Rad, das Wissen um den Geist
der muskulären Fortbewegung, die, so sag ich dreist,
das einzige Konzept für Frieden ist, ein Leben ohne Waffen,
wofür man einfach müsste den Motor abschaffen.
Ich war einmal mit einem Radlerfreund, nem guten Fahrer
in Europas Fahrradhauptstadt, in Ferrara,
gelegen von Venedig, der Geliebten, im Südwesten:
der Stadt inmitten Mauern, voller Kirchen, mit Palästen
in der etwas verschlafenen, oft nebeligen Ebene des Po,
weswegen man gemütlich dort im Flachen fährt und wo
Studenten, Anwälte, Hausfrauen, alte Fraun mit der bicicletta
gelassen und auch schnell die Stadt durchquern bei jedem Wetter.
Man hält, wenn auf der Piazza man den Freund erspäht,
gleich an und grüßt ihn, fragt, wie es ihm geht.
Nirgendwo hab diesen Frieden schöner ich empfunden
als dort in der Romagna, langsam gehen hin die Stunden,
wenn du dich langsam mit dem Rade fortbewegst
und deine Ruhe stets auf andre überträgst.
Entschuldigt meine lange Rede und die Wut: Tod unsrer Hektik!
Verstoßen wir die Massenwelt, den Motor, die Elektrik.
Es wird nicht gehn, außer wir werden alle Eremiten
oder selbst Terroristen, Gott bewahr, maschinenstürmende Banditen.
Wir brauchen einfach ganz für uns die Republik
des radfahrenden Volks, wär das nicht schick?“

Rudi ergänzt: „Ein Land so wie die Schweiz, jedoch ohne Armee,
ohne Automobile, ohne Industrie, touristisch schon, mit einem See
oder, noch besser, liegend gleich an einem Meer.“
„Ich hab die Lösung, Tansania!“ ruft da Rogoff, „wer
macht mit, geht hin, da habt ihr euer Traumland.
Denn Träumer seid ihr, ohne jeden Anstand.“
Rudi verteidigt sich: „Das ist doch eine Utopie.
Wer gar nicht weiß, wonach er strebt, erlangt sie nie.
Wir müssen später, morgen, übermorgen das erörtern
und besser, klüger, mit viel stärkern Wörtern.“
Sein Blick geht zu den drei Erynnien, sie winken.
„Wir haben Betten frei und auch noch was zu trinken,“
ruft Bellaire. Oder rief es Sue? War‘s etwa Nur?
Rudi reagiert sofort und nähert sich dem Zelt
und überlässt den Rest sich selbst, der Nacht und ihrer Welt.

Nur vor dem einen oder andren Wohnmobil
flackert noch auf einem Tisch ein kleines Licht,
und ein paar Leute sitzen noch und sind agil
Die späte Stunde stört sie nicht,
denn morgen ist erst Frühstück, dann Kostümausfahrt,
um elf, ein Mittagessen mit der Bürgermeisterin,
Besuche von Museen, was man sich gern erspart,
stattdessen Sahnetorte isst und trinkt Kaffee dazu mit Jägermeisterin.
Das Wetter hält, sagt Rogoff, der’s ja wissen muss.
Der ist ja von der Zeitung. Sitzt bei den Ungarn rum
und raucht und redet recht viel Stuß.
Um zwei Uhr morgens ist das Heerlager dann stumm.
Doch nicht die Paare im Begegnungszelt; sie flüstern,
gejagt und drängend tun’s die einen, müd und matt
die andern; bei manchen klingt’s noch lüstern.

Rudi krault Sue das Haar: „Du warst beinah rabiat“,
sagt er, „so wütend, böse, aber gut das tat.“
(Sue Germaine, die Zauberin, Haiti, spricht
zwar nur Französisch, was auch Rudi ist vertraut.
Amour, chérie, oui, je t’adore, es klingt so licht,
so königlich, und man sagt mehr, weil man auftaut.)
„Es war das Wahre“, meint sie, „das was ich empfand.
Du warst in meiner und auch ich in deiner Hand.
Aber was ist richtig, was ist heut noch wahr?
Meine Magie und meine Wut es immer war.“
Rudi denkt nach. „Der Wahre ist sich immer treu.
Ihn treibt an sein Gewissen, an ihm misst er täglich neu,
wie er zu handeln habe. So etwa schreibt der Journalist,
was er wo mit seinen Augen sieht, wie’s einfach ist,
das nennt man dann die Objektivität.
In Wahrheit schreibt er nur, was man gern lesen tät.
Der Schriftsteller will nicht verstecken,
was er empfindet, und Lesende sollen entdecken,
was er geschickt verbirgt, jedoch schreiben auch viele,
was andere erwarten, nett und lustig ist, die Spiele
kennen wir; wahre Autoren stecken ihre Kraft
in ihre Werke, sie leitet die Leidenschaft,
die überhaupt, in der Erotik und im Leben
Triebkraft und Vehikel ist für wahres Streben.
In unsrer Welt, die der Konsum regiert,
wird Leidenschaft nur von der Werbung noch zitiert,
zuweilen man erlebt in Filmen und in Büchern sie,
doch was heißt da erleben? Nie
ist es das Wahre, es ist schön verlogen, dekadent,
wer ehrlich und bewusst ist, das recht schnell erkennt.
Darum brauchen wir einen geheimen Orden
fürs wahre Tun, wie sie stets sind gegründet worden:
die wahren Radfahrer, die wahren Journalisten,
die wahren Parapsychologen, die wahren Touristen.“
„Den gründen wir nicht heute, aber übermorgen“,
sagt schläfrig Sue, „mach dir da keine Sorgen.“

Rudi fragt: „Wie bin ich denn an dich geraten?
Es war so dunkel, wer mich wollte, konnt ich nicht erraten.“
Sue sagt: „Nur stand abseits, Bellaire habe ich abgelenkt,
und dich geschoben ins erste Abteil, hineingedrängt,
der Rest ging ohne Magie und ohne Voodoo ganz:
Schnell hab ich dich entkleidet und los ging der Tanz.
Jetzt küss mich, und wir schlafen ruhig ein,
als wären wir schon Tote, wie ein Stein.
Du hast mich anvisiert, die Magierin hast du mit Magie
Verhext; mit deiner Lauterkeit; und nun sagt sie
einfach, dass sie dich hat gerne.
Das weißt du nun; drum funkeln draußen auch alle die Sterne.“

Ende erster Tag. Nun eine wohlverdiente Pause, bis der zweite Tag anhebt mit der Konstümausfahrt nach Karlsruhe, einem Besuch am Grab von Drais und einer Geisteraustreibung. Bleibt dran! 

 

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