Das Jahrhundertrennen (4)

Jetzt können wir etwas durchatmen. Die Rennen sind vorbei, es gibt Besprechungen, und alles flutet zum See, an dem ein Multikultifest stattfinden soll. Da muss man dabeisein! Wenn ich es so bedenke: So etwas schreibt man nur einmal im Leben, das war eine Gunst, die mir zuflog. Die Muse war mir geneigt, als ich hier und auf Sizilien und in Zürich daran pinselte. Ich hoffe, ein paar Beharrliche lesen noch!

Siegerehrung

Die Zuschauer strömen bereits beschleunigt auseinander.
Her mit dem Mikrofon: „Die Siegerehrung naht, bitte nicht gehn!“
Ruft Siegfried Staller, bald stehn die Siegreichen eng beieinander
Am Rand der Piste, wo die drei verschieden hohen Podeste stehn.
Der Präsident ruft hervor den Dritten seines Wettbewerbs beim Hochrad
den Schweizer Louis Dreher, dann besteigt der Wouters Freddie
den Vizeweltmeisterpodest, wonach der Sandor Derty naht
und die höchste Stufe erklimmt, gedacht hätt man das nie!
Er ruft was Ungarisches, hebt die Arme wie ein Sieger hoch,
Bekommt, sich neigend, eine Medaille umgehangen
Und dann stellt Alma ihm in Aussicht einen Kuss, wofür er noch
viel tiefer sich verneigen muss. Dann konnt er ihn empfangen.

Beifall. Es regen sich da auch die Hände unsrer beiden Bayern.
Der Ungar singt ein Lied, da kein Orchester seine Hymne spielt.
Dann Abstieg vom Olymp. Die nächsten dürfen feiern,
bei den Exoten hat Sofia überraschend den Platz drei erzielt.
Wälti ist bärtig, wirkt gesammelt, wirkt bescheiden und sehr glücklich.
Er ist Exotenvizeweltmeister, das kann man schon lassen.
Claude, mit Vollbart gut bestückt auch er, zieht sich
Mit akrobatischen Bewegungen und fast ausgelassen,
auf das höchste Podest, von dem er würdevoll herunterwinkt.
Twain hebt die Hand, sagt unumwunden:
„Schön, dass es unsren Frauen manchmal auch gelingt,
uns Männer zu besiegen.“ Noch nicht ganz überwunden
hat Fjodor Bykow seine Schlappe. Aber Elsbeth freut sich sehr
und strahlt. Ann Savognin schien erst verschwunden,
nach zwei Minuten aber taucht sie auf, läuft her.
„Hab mich verirrt, den Ort hier nicht gefunden.“
Sie wollte sich, sagt sie, noch etwas schminken
Wie einst der schöne Hugo Koblet nach dem Sieg sich kämmt‘ das Haar.
Danach gelingt es ihr, charmant auch sie, zu winken
Und Viktor auch zu küssen, als wär er ihr Zar.

Das wär es dann, sagen sich alle, für dieses Jahr.
Peter Rogoff war präsent, hat viel fotografiert,
damit man nicht vergisst, was einmal war,
und dass, was war, auch ist gut dokumentiert.
Er holt sich an der Theke dann ein kühles Bier
Und stellt sich neben Rudi, der gleich zu ihm spricht.
„Ich war auch einmal Journalist, und mir
Hat das gefallen, eine Zeitlang, und dann nicht
mehr sehr, als Arbeit ist es etwas schlicht.
Man hat zwar Einfluss, aber dann: worauf und wie?
Es geht um Politik und Wirtschaft, aber nie
Um das, was mich bewegt: Gott und die Seele,
Philosophie, Philologie … Ich nicht verhehle,
dass niemand sich dafür interessiert.
Wer davon schreibt, der langweilt und der provoziert.
Ich bin leider schon lange aus dem Rennen
Und kenne niemanden, der sagt, er würd‘ mich kennen.“

Rogoff antwortet: „Wenn Sie das können: gut. Respekt.
Ich arbeite für meine Miete, für das Auto, und es steckt
In mir viel mehr, doch vorerst bleibt es da.
Ich tue das Verlangte, bin Ereignissen ganz nah.
Doch leider: In dieser Multimediawelt kann jeder,
was kann ein Journalist wie ich, der Rogoff Peter.
Sie alle schreiben, machen Bilder: Instagram und Twitter
Und für uns Journalisten ist das leider bitter.
Unser Gewerbe ist sehr schnell und zwielichtig geworden,
wegen der unüberschaubaren Mail- und Twitter-Horden.
Aber die Presse hält ihnen noch stand,
ist immer noch ein Faktor in diesem unsrem Land.“
Rudi hebt sein Glas und sagt: „Ich bin Rudi, Prost.“
Rogoff sagt: „Auch Prost. Ich Peter. Ist ein Trost,
dass jemand mich versteht. Ich muss nun fahren.
Die Ausgabe von morgen … kann’s mir nicht ersparen
Bei der Kostümausfahrt und bei dem Termin
Mit der Bürgermeisterin dabeizusein, denn sie, nicht ihn
Kann man nur schwerlich ignorieren.
Und man kann es wohl auch nicht riskieren,
euer Century, dieses Jahrhundertrennen zu versäumen,
das übermorgen steigt, da bloß nicht säumen,
früh aufstehn, denn der Start ist, wenn die Sonne sich erhebt.
Du fährst da sicher mit. Glück hat, wer das erlebt.“
Rudi erwidert: „Ich glaube glatt, das wird sensationell.
Wir sehen uns, die Zeit vergeht so schnell.“

Derweil die Zuschauer begeben sich in Richtung See-Camping.
Dorothy und Viktor, Terry, Staller, die Protagonisten
Gehen zu Fuß hoch ins Hotel – und fühlen sich wie auf dem Nürburgring
Und gleichzeitig wie auf den frequentierten Pisten,
die führen nach Karatschi und Kampala und … Karlsruhe.
Da rollen viele Autos, und mit Rädern und zu Fuß
Bewegen sich, sehr gut gelaunt, in aller Seelenruhe
Menschen von andren Kontinenten, die man kennen muss,
(nein: müsste), da sie Bewohner der nordbadischen Metropole sind,
die arbeiten am Bauhof und in Dönerläden, in Internetzentralen;
sie putzen, räumen Zimmer auf, und kümmern sich auch um ein Kind
von gut verdienenden Migranten, die was können zahlen.
Staller meint: „Die gehen zu dem Fest, das hat sich rumgesprochen,
unglaublich, so spontan … und wir planen seit Wochen!“
Terry Twain meint: „Nichts wird geändert, nichts wird unterbrochen,
auf den Empfang mit unsren Rennteilnehmern muss ich pochen.
Seit Jahren ist das eine gern geübte Tradition,
auch wenn wir unter uns sind, machen wir das schon.
Ein großes Fest ziemt sich erst nach dem Jahrhundertrennen
Und so zum Abschluss, wenn’s schön war und das Fazit wir benennen.“

Rudi erklärt: „Ach, man muss die Feste einfach feiern, wie sie fallen.
Von mir aus jeden Abend eine riesen Fete, wird allen gefallen.
Nicht jeden Tag gibt’s eine Chance auf die Verbrüderung
Mit ‚ausländischen Mitbürgern‘ – bei unserer Veranstaltung,
da findet’s statt, im Zeichen und im Geiste unseres geliebten Rads.
Vergessen wir das nicht: Das Fahrrad tat’s!
Wir wollten euch nicht überrumpeln, nicht entmachten,
es war ein Einfall, den wir alle hatten, und wir trachten
nach einem schönen und friedlichen Beisammensein
der Völker mit dem Motto: Unsre Welt ist klein.“

Damit verabschiedet sich Rudi, geht hinunter zu den Zelten,
die andern wandern weiter gegen den menschlichen Strom.
Der Zeltplatz wird zum Schauplatz sehr verschiedner Welten
Vereint im Chaos, bunt und hektisch wie das Ew’ge Rom.
Rudi lässt sich also von und in den bunten Pilgern treiben,
die Autos bleiben stehn, keins wird mehr durchgelassen.
Am Wegesrand steht Steisbein, so, als würd er stets so bleiben,
er sagt, als Rudi fragend schaut: „Die Objektivität hat mich verlassen,
ich habe mich vergessen, besser, dass ich heimwärts schreite.
Man wollte mich von Anfang nicht, es war ne große Pleite.“
Rudi lacht. „Maestro, manchmal ist die Objektivität
das Falsche; das Herz sagt uns, was man am besten tät,
und vorhin haben viele sehr bewundert, was Sie taten.
Wir brauchen Ihre Kenntnisse, Ihr Wissen um die Daten,
ich bitte Sie, kommen Sie mit, wir finden einen stillen Ort,
um uns über das Rad und alles auszutauschen dort.“

Steisbein nickt, wirkt gleich erfreut und schiebt sein Rad voran.
Links und rechts des Wegs steht halb hoch das Getreide.
Vor ihnen an dem See gehn schon die ersten Feuer an.
Drei Kühe blicken auf; so viele Leute, wollen die zur Weide
Oder strömen sie denn heim, in irgendeinen Stall?
Man hört die Laute aus Marokko, eine Aud,
die Laute einer indischen Sitar, sie steigen auf zum All,
und eine Trommel fällt nun ein ganz laut.
Und wie betäubt treten sie ein ins Reich der fremden Düfte.
Sandelholz und Moschus, Kardamom und Zimt
Erheben und vermischen sich, beseligen die Lüfte.
Rauchwolken quellen hoch, und überall die Kohle glimmt.
Der Zug passiert den flachen Bau der Camping-Rezeption
Und längs den Hauptweg, der zum Seeufer führt
Reihen sich die vielen improvisierten Stände,
und rechts dann, wo das Ufer wird berührt
von einer wilden Wiese, einem Freigelände,
da sind erbaut ganz neu vier Zelte und zwei Bühnen,
die beide dicht am Wasser stehen.
Im Halbkreis angeordnet sind davor die grünen
Räumlichkeiten aus Tuch und Samt, auf dem viel Fahnen wehen.

Das erste Zelt ist da zum Rauchen und zum Plaudern,
das zweite für die Frau, die Märchen uns erzählt,
das dritte, nun, da muss man etwas zaudern,
hat durch Teppichen geteilte Appartmente, und sie wählt,
wer sich intim begegnen mag mit einem Wesen
des anderen Geschlechts (oder des gleichen),
so etwas ist an jedem Ort der Welt gewesen,
ein rotes Flämmchen brennt davor als Zeichen.
Das vierte Zelt ist kleiner, es gehört
Der schönen Miranda de Campos, Graciosa ist ihr zweiter Name:
der Portugiesin, die dort, unerhört und ungestört
dir mit den Karten deine Zukunft zeigt, die dunkle, stille Dame.

Besprechung

Im Aufenthaltsraum neben der Campingrezeption
Warten die Helden aller Rennen. Und auch Funktionäre vom Verband.
Schnittchen und gekühlten Wein gibt es zum Lohn,
und Trinksprüche von Twain und Staller, wie aus einer Hand.
Pål Janssen und der Vaclav Terezin werden extra erwähnt,
weil sie sportlich waren und den andern Freude machten,
dieweil Fjodor Bykow beleidigt ist, sich als Versager wähnt
und Nobel sagt, was viele dachten:
„Diese Exoten zwei durfte man nie starten lassen.
Lächerlich haben sie uns gemacht, uns schlecht aussehen lassen.“
Ann Savognin sagt: „Nehmt das doch nicht so ernst, verdammt noch mal.
Ich habe zwar gewonnen, doch ist’s mir ganz egal.“
Alma springt ihr bei: „Wen die Exoten stören, der hat schon verloren.
Bunt sind die Asiaten, Russen, Haitianer und die Mohren.“
Fjodor murrt da: „Hast uns grad genannt in einem Atemzug
Mit den Exoten draußen, das war gar nicht klug.“
„Was du gemacht hast, Alma“, Larry Wanton spricht,
„war nicht sehr fair, und das zu sagen, ist hier meine Pflicht.“
Terry Twain fühlt sich nun etwas unbehaglich.
„Da draußen tobt das Fest“, sagt er, „und fraglich,
ob streiten etwas nützt. Die Helden aller Rennen sind entlassen,
nicht jedoch sind es die Funktionäre, die Älteren und Blassen,
die unseren großen Verband so funktionieren lassen
zum Wohle aller Fahrräder und Rassen.
Der Plan fürs nächste Jahr muss seinen Segen kriegen,
besprochen werden müssen Anträge und Anliegen,
und schließlich: Wahl des neuen Präsidenten.
Ich bin’s zwei Jahre, und ich meine, es soll enden.
Dennoch, mein ich zudem, sollten die Sitzung wir vertagen
Und morgen ins Verkehrsmuseum die Probleme tragen,
da hat es einen schönen Sitzungsraum, der mir gefällt,
da regeln wir das Nötige, die Grenzen unsrer kleinen Welt.“
Das war so formuliert, dass nun kein Einwand mehr verfängt.
Verabschiedung; man murmelt ein paar Worte, nickt verständnisvoll,
und dann, froh um die Pause, zum Ausgang alles drängt.
Und draußen drängt sich alles, wallt und scheint wie toll.
Überall nur Köpfe, keiner hat den Überblick.
Die Veteranenradler sind verloren in der Menge,
hier taucht ein Kopf auf und dort ein Gesicht, für einen kurzen Blick,
doch dann taucht alles unter in drangvoller Enge.

Entfernt von ihnen, längs den See, kommen drei Dschihadisten,
die hatten vorher recherchiert
auf umfänglichen Veranstaltungslisten
und sich ins Multikultifest klug infiltriert.
Mehmed, Ali und Abdullah
sind gegen Fahrräder, das ist keine Frage,
sind gegen Kultur und denken, dass Allah
wie sie furchtbar findet die Lage.
Sie holten sich drei dicke schwarzweiße Cruiser
und verbargen sich im Schilf,
vor allen andern, den Opfern: die Loser
und brachen hervor mit „Allah hilf!“
Sofort schreien sie auf Arabisch Parolen
und schwenken die Waffen und fahren wie Henker
am Ufer entlang. Ali will Mehmed überholen,
jeder die Maschinenpistole rechts, die andre Hand am Lenker,
das geht nicht gut, die Lenker sich verhaken,
während hundert Zuschauer sind außer Rand und Band:
Sie lachen und applaudieren, derweil Ali und Mehmed wie zwei Kraken
verheddert mit Armen und Beinen hinstürzen in den Sand.
Zwei Salven lösen sich aus den Maschinengewehren
und in den Himmel fliegen hundert Geschoße,
begleitet von Beifall, während Abdullah holt, Allah zu Ehren,
die kleine Bombe aus der Tasche seiner Hose,
wonach er verblüfft über seine Vorfahrer fällt.
Die Bombe fliegt in hohem Bogen in den See
und explodiert: volle Dusche für die Multikultiwelt,
doch die drei Dschihadisten jammern, denen tut alles weh.
Die Multikultis jubeln, was für ein Gag, ganz ohne Gage,
und Bellaire und Thitch Nam That eilen herbei,
die Thailänderin hilft mit einer guten Massage
und man lobt und pflegt die unglücklichen Drei.
Sie wähnen sich fast im Paradiese,
in einem Zelt, wo man sie zärtlich umhegt.
Schöne Frauen sind da und streicheln diese
drei Helden, und Nur sich zu ihnen legt.
„Ich habe wirklich Angst bekommen“,
sagt sie, „alles, was wir liebten, war in Gefahr.
Der Gott des Fahrrads ist zu euch zu Hilfe gekommen,
und hat euch verziehen, ach, wie knapp das war!“
Am Eingang des Zelts sagt Rudi: „Auch wir wollen vergeben,
weil alles gut ausging, gelobt sei das Leben!
Nur Fahrrad fahren müssen sie lernen,
dann fahren sie hin wie die Götter, hoch zu den Sternen.“
Zu Bellaire sagt er ganz leise: „Bring mir weg die Waffen,
die müssen morgen doch zur Polizei wir schaffen.
Bindet sie fest, sie bleiben doch eine Gefahr.
Wir hatten Glück; wie knapp das diesmal war!“

Ein verhindertes Attentat … das hatte ich geschrieben lang vor Paris, Berlin, London, Stockholm. Und das Begegnungszelt … so etwas fehlt heute. Morgen wird Rudi dort hinein gelotst, denn man weiß, er lässt alles mit sich geschehen.

 

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