Jan Ullrich über sich
Das Buch ist schon wieder ein paar Jahre alt (dreizehn, um genau zu sein), aber als Radsport-Historiker, der ich bin, musste ich es mir zu Gemüte führen. Es heißt Ganz oder gar nicht und ist seine Geschichte, bei der damals, 2004, noch alles drin war.
Für Bianchi fuhr Ulle 2003 ganz stark, wurde nochmals Zweiter der Tour de France. Damit ist und bleibt er der erfolgreichste deutsche Radrennfahrer aller Zeiten: die Tour gewonnen (1997), fünf Mal Zweiter gewesen; da Armstrong alle seine Siege verlor, könnte Jan Ullrich sogar als sechsmaliger Tour-Sieger gelten, doch es gibt Vorbehalte …
2004 ging er zu Team Telekom zurück, das ihn dann 2006, im Zuge der Fuentes-Affäre und kurz vor dem Beginn der Tour de France, an die Luft setzte. Dann war die Luft raus, und im Frühjahr 2007 erklärte Ullrich seinen Rücktritt vom Radsport. Der nunmehr 44-Jährige ist kürzlich mit Frau und Kindern nach Mallorca verzogen und verkauft seine Villa im Scherzingen am Bodensee für drei Millionen Franken (hieß es zuletzt am 23. April).
Für den Historiker stehen ein paar nette Anekdötchen in dem Buch (wie er sich bei der Tour de Suisse 1996 verfuhr und einen Kontrahenten zwei Mal überholte), aber so ergiebig ist es dann doch nicht. Nett geschrieben ist es schon (mit Hagen Boßdorf, dem Journalisten), ziemlich herzergreifend, Liebe und so, Leidenschaft, Enttäuschungen … Und erfahren wir etwas über Doping? »Für mich ist ein Profi nicht nur ein Sportler, der hart trainiert und seine Taktik und Technik weiterentwickelt, sondern genauso jemand, der Fairplay und Moral achtet. Doping ist für mich daher verwerflich, denn man das bedeutet schlicht und einfach Betrug.«
Hört, hört! Das man ist drin stehengeblieben und sagt uns, dass es mit diesem Satz Probleme gab. Er ging nicht ganz so flüssig raus. Es gab vorher vielleicht eine andere Version. Sätze über Doping muss man sich genau anschauen: Sie sind, wenn sie von dopenden Profis geschrieben oder gesagt wurden, so formuliert, dass sie kein Eingeständnis sind und dennoch keine glatten Lügen. Dessen will man später sich nicht beschuldigt werden.
Wenn Jan Ullrich über die dopingverseuchte Tour 1998 schreibt ›Wir haben mit Doping absolut nichts zu tun‹, hatten wir als Team erklärt, beschreibt das ein Faktum (das hatten sie ja so erklärt) und nicht mehr. Nachtests der Anti-Dopingkommission des französischen Senats hatten für Ulle, Zabel und Heppner bei Nachtests Epo-Gebrauch bei jener Tour nachgewiesen. 2013 fand der Ostdeutsche ein paar dürre Worte des Zugeständnisses und der Reue, aber das war’s. Halt, noch zwei Sätze aus dem Buch über die Tour 1998. »Wie ein Krebsgeschwür fraß das Doping meinen Sport in diesen Tagen auf. … Für unser Team war das besonders bitter, denn wir waren sauber.« (S. 169) Drei aus dem Team wohl nicht; diese Aussage kann man nicht hindrehen, sie bleibt schurkisch. Ich habe mit Jan Ullrich immer mitgefiebert, aber in den späteren Jahren ist meine Begeisterung für ihn geschwunden, aber auch für den ganzen Radsport, und nicht unbedingt wegen der Tatsache des Dopings, sondern wegen der Lügen, der Heuchelei, der Männerbündelei, des Kadavergehorsams. Es ging halt um viel Geld, da werden Leute zu Hyänen.
Schade, dass man wieder so viel über Doping schreibt und nicht mehr über die erregenden Zeitfahrleistungen und den Kampf am Berg, aber es bleibt ein Stachel im Fleisch des Radsports. Der Astana-Profi Michele Scarponi, der am 22. April gestorben ist, war auch 18 Monate wegen einer positiven Probe gesperrt gewesen und weitere drei Monate, weil er von Michele Ferrari betreut wurde.
Jedenfalls war Jan Ullrich ein super Athlet, der Voraussetzungen mitbrachte wie früher Fausto Coppi, Hugo Koblet und Marco Pantani. Aber sensibel und schwach wie diese war er auch. Probleme mit dem Alkohol hatte er, und im Winter aß er regelmäßig zu viel (wie Koblet); ein verführbarer Mensch wie wir alle. Und man darf nicht ungerecht sein: Er hat sein Potenzial auf höchste Ebene umgesetzt, nicht 100-prozentig vielleicht (denn da gab es das amerikanische Alphatier Armstrong), aber so, dass er zufrieden sein kann. Koblet und Pantani triumphierten nur zwei Sommer lang. Jan Ullrichs Name wird immer den deutschen Radsport zieren.
Und genau an diesem Tag, ganz aktuell, meldet die FAZ: Ulle kommt zurück ! Er wurde zum Sportlichen Leiter von Rund um Köln berufen, und hier ist der Artikel. Konnte man nicht den Schlussstrich stehen lassen? Konnte man nicht Patrik Sinkewitz wählen, der über sein Doping ausgesagt hat (und dafür von der Szene geächtet wurde)? Nein, der Radsport ist verkommen und ein Heuchelverein.