Manicomio, Rom (2)
Robert Edler von Musil ist der Autor des Romans Mann ohne Eigenschaften. Ich kenne nichts Besseres. Musil, der Klagenfurter, war Ingenieur und achtete leidenschaftliche Präzision. Ein großer Stilist und guter Beobachter war er, was sich auch in seinen Tagebüchern abbildet.
»Ein Hof, abgeschlossen, von einer Galerie umzogen. Am Eingang idiotische Jungen, rotzig unsauber. Ein junger Mann drängt sich an uns heran, queruliert. Gott weiß, womit er vorher seine Zeit verbrachte. Ich will hinaus, bittet er, wann lässt du mich hinaus. Darüber hat der Direktor zu entscheiden, nicht ich, beruhigt Sergio. Der bittet weiter und allmählich kommt ein Ton von Drohung in seine Stimme, von Bedrängen, etwas Schwirrendes, Umflatterndes, wissenlos Gefährdendes. Die Wärter drücken ihn auf seine Bank. Einer sitzt hier, ein einfacher Mann, noch in seiner dunklen Sonntagskleidung. Sie grüßen scheu und höflich, tragen bescheiden kleine Bitten vor, man hat mehr den Eindruck eines Gefängnisses.
Dann der andere Hof. Vorsicht beim Eintreten, der Wärter pocht mit der Faust an das Tor und auf dieses Zeichen müssen sich alle in einer Reihe in der Galerie aufstellen oder dort auf die Bänke setzen. Sergio schärft mir noch eigens ein, in mindestens zwei Schritten Abstand vorbeizugehn. Alle tun wir es. Wie einer seinen Platz verlässt, packen ihn die Wärter. Es kommt alles darauf an jede Unruhe im Keim schon zu ersticken, wir sind sieben gegen dreißig; in einem stillen ummauerten, nur von Irren umwohnten Hof, darunter Mörder. (Das Merkwürdige ist, dass sie einander nichts tun, sich nur über die Fremden, Störenden erregen.) Gleich bei der Tür steht einer, mittelgroß, mittelstark, einen braunen Knebelbart und stechende Augen. Er lehnt mit verschränkten Armen in der Ecke, schweigt und sieht uns böse zu. Ich glaube, dem wird es gelingen, auszubrechen.
»Dann ein Kleiner, Untersetzter. Mit einem kurz geschorenen Sträflingsschädel, der sich nach oben verjüngt. Zähne zum Steineknacken. Er steht auf. Sergio spricht ein paar Worte mit ihm. Fragen Sie ihn warum er hier ist, sagt mir Sergio. Der kann ziemlich gut Deutsch. Warum bist du hier, frage ich. Das weißt du sehr gut, die Antwort. Ich weiß es nicht, beharre ich, warum bist du hier? Das weißt du sehr gut!! Warum bist du so unhöflich zu mir? sage ich. Weil ich will, ich kann tun, was ich will!! Aber man darf doch nicht ohne Grund unhöflich sein? Ich darf tun, was ich will!! Verstehst du? Was ich will!! Ich möchte mit dem Kerl jetzt nicht allein sein; er spricht sehr laut, raunzt mich an wie ein Unteroffizier, lcht mit irgendetwas seines Gesichts und ich glaube er würde mich, wenn er könnte, an der Kehle packen und ins Gesicht beißen. Ich bin von Berlin, sage ich. Oh Berlin, eine schöne Stadt, antwortet der Mörder, ganz verändert, ein Glanz geht über ihn, eine Weichheit, aber das macht den Eindruck einer unheimlichen Unberechenbarkeit noch tiefer. Sergi neckt ihn, er ist bös auf ihn, antwortet ihm nicht. (…)
»Einzelzellen: Von ferne ein Schrei, immer der eine Schrei. Wir öffnen die Zellentür. Ein kahler Raum, in der Ecke ein Abort, zugedeckt, frei in der Mitte eine niedere Liegestatt. Ein nackter Mann steht in der Mitte des Raumes. Er ist so groß wie ich, ziemlich muskulös. Braunblonden Bart, hellbraune Schamhaare. Mit gespreizten Beinen steht er da, den Kopf gesenkt, dicken Speichel im Bart. Er macht wie ein Pendel immer die gleiche Bewegung, ein Herumwerfen des Oberkörpers nach der einen Seite, etwas gesenkten Kopfes, und mit einer Fingerbewegung … Dazu jedesmal ein lauter Schrei, ›Äh‹ keuchend, mit kolossaler Anspannung der Atmungsmuskulatur hervorgestoßen. Ihm ist nicht zu helfen, man muss warten, bis er ermüdet. Das dauert stundenlang. – In einer anderen Zelle ein blödsinniger Alter. Er blinzelt uns an. Alkoholiker. Hat geträumt, seine Frau betröge ihn, und erschlug sie nach dem Erwachen. – In einer anderen Zelle ein Arzt, stumpfsinnig, brütend, wir treten gleich wieder hinaus. –
»In einer letzten Zelle ein Advokat. In Straßenkleidung bloß ohne Kragen. Er hat einen schwarzen Vollbart, schwarzes Haar. Er sieht aus, als ob er sogleich zu einem Plädoyer aufs Gericht gehen könnte. Bloß so ein mühsames Verstehen liegt in seiner Art, wenn er spricht, etwas Zähes, durch das sich sein Geist durchkämpfen muss; aber man würde es kaum gewahren, träfe man ihn nicht hier. Doktor, sagt er, immer kommen Sie mit Freunden, wer ist der Herr? Ein Arzt aus Berlin. – Immer kommen Sie mit Fremden, ich will auch einmal mitkommen, zeigen Sie mir – und er schickt sich an, sich uns anzuschließen. Addio Avvocato, sagt Prof. Sergi schnell und die Wärter schließen mit einem gewissen Respekt die Tür. ―«