Der selbstbestimmte Tod

Volkstrauertag. Ich hatte mir lange den Tod als Schnitter vorgestellt, der dasteht und sagt: »Komm mit!« Ich dachte mir: Du gehst nur kurz vom Bett des Sterbenden fort, und dann stirbt er, und du wirst dir Vorwürfe machen. Aber so ist es nicht. Todkranke können sehr wohl über den Augenblick ihres Hinübergangs bestimmen. Erst versuchen sie, mit dem Tod zu handeln und kämpfen; aber irgendwann sind sie bereit.

Ich hatte vor ein paar Jahren mit einer Bekannten gesprochen, und sie erzählte: »Unsere Mutter lag im Sterben, und dann sind meine Schwester und ich weggegangen, um etwas zu erledigen, und genau in dieser halben Stunde ist sie gestorben. Ich glaube, sie wollte das allein hinter sich bringen.« Wenn ich so darüber nachdenke, würde ich auch einen Moment wählen, in dem ich alleine wäre, und mich dann still und leise »vom Acker machen«.

 

Entweder man hat mit dem Leben abgeschlossen wie eine ferne Bekannte meiner Mutter, von der es hieß: »Sie hatte keine Lust mehr.« Oder man ahnt, das es zu Ende geht und sagt, wie eine Klosterschwester, die meine Nachbarin kannte: »Heute sterb ich mal.« (Es war dann aber am übernächsten Tag.)  

Bisweilen hält die Lebenskraft noch so lange, damit man einen wichtigen Tag noch erleben kann; danach lässt man sich fallen. Oder der Partner stirbt, was einem auch den Lebensmut raubt. Ich entsinne mich einer japanischen Studie, die ich aber gerade nicht finden kann. Forscher hatten bemerkt, dass nach einem wichtigen Volksfest viele alte Menschen starben, vor dem Fest aber viel weniger, als man erwartet hätte. Man konnte nur zu dem Schluss kommen, dass die Kranken noch alle ihre Kräfte zusammen genommen hatten, um noch einmal dabei sein zu können.  (Bild: Abflug. Auf dem alten Friedhof Müllheim.)

Ein Satz aus dem Roman »Die letzte Welt« (1992) von Christoph Ransmayr: »Die Alten und Siechen der eisernen Stadt, die in der Kälte alle ihre Kräfte gespart und doch allein von der Hoffnung auf die Schneeschmelze am Leben gehalten worden waren, sie atmeten endlich auf; in dieser grenzenlosen Erleichterung, in diesem Nachlassen und Zurücksinken erreichte viele von ihnen der Tod.« 

1992 ist auch das Buch Final Gifts (Letzte Geschenke) von Maggie Callahan und Patricia Kelley erschienen, zwei Krankenschwestern, die viel mit Sterbenden zu tun hatten. Sie erwähnten, dass viele Sterbende Metaphern einer Reise in ihre Worte flechten. Sie wissen, dass es davongeht. Manche waren so krank und elend, dass sie sich gefragt hätten: Was hält sie noch auf der Welt? Oft erwies sich dann, dass es etwas Unerledigtes gab. 

Friedhof San Michele, Venedig

Ein Sohn oder eine Tochter sollte noch vorbeikommen, eine Unstimmigkeit musste ausgeräumt werden, eine Aufgabe war noch liegen geblieben. In einer bewegenden Geschichte ging es um die schwer krebskranke 42-jährige Janine. »Ihr Sterben zog sich hin. Wir fragten uns oft, was fehlte — was sie brauchte, um friedlich sterben zu können.« Allmählich drangen sie zu ihr durch, und sie gestand, sie wolle ihren Partner kirchlich heiraten. Nach der Zeremonie schlief sie ein.        

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