Eine Krisenerscheinung

Nach der Theorie über Geisterscheinungen nun ein Beispiel, von mir lyrisch aufgearbeitet in meiner Gedichtphase 2011. Ein Gedicht hat natürlich nicht die Überzeugungskraft eines Berichts, den ein verblüffter Zeuge schreibt. Aber über die Phase, Geister »beweisen« zu wollen, sind wir hinaus. Hier geht es um eine »Krisenerscheinung«, die anscheinend ganz körperlich wirkt und auch ihr Bier trinkt. Erstaunlich.  

 Last Orders

Geschichten über Geister sind ja kaum zu zählen,
und nicht erfund’ne, sondern wahre: belegt und dokumentiert in Briefen,
in Befragungen. Sie finden sich in Büchern und in den Archiven.
Man braucht nur eine auszuwählen.

Vor mir liegt ein kopiertes Blatt
Aus einer Ausgabe der »Fortean Times«, vor fünfzehn Jahren im August.
In der Rubrik »Letters« stand ein Brief, »Last Orders«, und er machte Lust,
hier zu erzählen, was Herr Norman Green gesehen hat.

Nach Ostern. Norman Green und seine Frau sind fortgefahren
Ins Seebad Blackpool, wo sie lange nicht mehr waren.
Sie haben eine Wohnung dort gemietet an der See
Fürs lange Wochenende. Freitag nachmittag. Sie trinken Tee,

dann essen sie zu Abend; sie ist müde und zieht sich zurück.
Und Norman nutzt die Chance, geht aus, dorthin, wo vormals eine Brück’,
und heute der »Old Bridge Inn« steht, und stellt sich an die Bar.
Bestellt sich ein Glas Boddington, und: alles klar. 

Le Bon Bock Bar, meine Stammkneipe in Rom

Ein Mann am andern Ende dieser Theke mustert ihn.
Dann kommt er her. »Entschuldigung, ich hab Sie angestarrt.
Sie kommen mir bekannt vor, ist sonst nicht meine Art.
Sind Sie denn aus South Yorkshire?« – »Ja«, sagt Norman Green,

»Bin dort geboren, aber nun im Norden, seit fast zwanzig Jahren.«
»Du heißt nicht Norman, ganz zufällig?« – »Wirklich heiß ich so.«
»Und ich bin Jimmy Marriott. Also stimmt es, ach, da bin ich froh.«
Natürlich, Jimmy! Drei Jahre älter, Chef der Gang, als wir noch Kinder waren.

In einem Teil von Barnsley, Goldthorpe, war ein kleines Kaff,
in Barnsley leben noch zwei Brüder und eine Schwester von
unserem Norman, und er holt zwei weit’re Gläser Boddington.
Das gibt es selten, so ein Zufall, beide sind sie baff.   

Jimmy spricht von Normans Schwester, in die er mal verschossen war.
Der Landlord läutet, die »Last Orders«, will noch jemand was bestellen?
Und Norman sagt, er fänd es schön, ihm seine Frau auch vorzustellen.
»Was meinst du, morgen Abend?« Und dann Good night, da an der Bar.

Nur fehlte Jimmy Samstag abend um halb neun im Inn.
Der Landlord, auf ihn angesprochen, erinnerte sich nicht an ihn.
Norman und seine Frau, sie trinken, warten, und nach einer Stunde,
verlassen sie den Pub und drehen in der Stadt noch eine Runde.

Zu Hause wieder dann am Montag, rief die Schwester an,
das tat sie regelmäßig, mit den Neuigkeiten aus dem Ort, und dann
erwähnte Norman: »Du glaubst ja nicht, mit wem ich war beim Bier!
Mit Jimmy Marriott! Und er sprach wie ein Verliebter mir von dir!«

Die Schwester schwieg. Und meinte: »Spar dir deinen Spaß.
Ich halt das für geschmacklos, und ich sag dir was:
Der Jimmy ist seit Freitag abend tot, es war halb sieben,
ein Autounfall außerhalb von Barnsley, wen will der noch lieben?« 

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