L’enfant noir
L’enfant noir (Das schwarze Kind) ist ein Roman des Guineers Laye Camara und erschien 1953. Er beschreibt, wie Laye (er selbst) in Koroussa heranwächst, die höhere Schule in Conakry besucht und beschließt, nach Frankreich zu gehen. Es ist ein ruhiges, intimes, aber intensives Buch.
Der senegalesische Pfleger Hadji, den im Heim alle »Papa« nennen, obwohl er erst 35 ist, empfahl mir dieses Buch. Es zu lesen, hat Freude gemacht. Normalerweise habe ich nichts übrig für Geschichten, in denen Autoren ihre Kindheit beschreiben, doch hier war ich gefesselt. Camara schreibt klar, fast kristallin, und dann »erdet« er seine Erfahrungen gern mit einem eingängigen Satz; mit einer Frage oder einer Erkenntnis, die bleibt.
In Geschichten über das Heranwachsen geht es immer um Initiationen (Einweihungen), die von Angst begleitet sind. Das fängt an, als der kleine Laye mit einer Schlange spielt. Sie sei der Geist seiner Sippe, erfährt er, er dürfe ihr nichts tun. Später muss er sich der Angriffe älterer Schüler erwehren (eine häufige Erfahrung, die auch ich machte) und muss die Angst ertragen, die den Jugendlichen vor ihrer Beschneidung bereitet wird: Sie sind gezwungen, in den Busch zu wandern und sich von vermeintlichen Löwen anbrüllen und bedrohen zu lassen.
Layes Eltern sind großartig. Immer wieder kann er zum Vater gehen, der ihm die Hand hält und ihm sagt: »Du musst keine Angst haben.« Wieviele Ängste uns beim Erwachsenwerden begleiten! Wie gut, wenn man zur Mutter gehen und sich von ihr umarmen lassen kann! Dieser Roman schenkt Vertrauen. Wir sind nicht alleine. Alles kann man regeln.
Auch die Trennung von den Eltern, um in Conakry die Techniker-Schule zu besuchen, ist eine schmerzhafte Inititation, also ein Neubeginn, eine Abnabelung: ein Schritt, um die Selbstständigkeit zu erringen. Wer mehr darüber wissen will, kann den Artikel einer Ethnologin über Schwellenrituale lesen, die Arnold van Gennep und der erwähnte Victor Turner analysiert haben. Überall auf der Welt sind die Übergänge in neue Lebensphasen festgelegt: bei uns durch die Firmung, den Führerschein, die Heirat. Beim Junggesellenabschied wird Geschirr zertrümmert: Das alte Leben wird lautstark verabschiedet.
Gegen Ende des Romans trifft Laye mit seinem Zertifikat aus Conakry wieder zu Hause ein. Das schrieb ich am Vorabend des Tages, an dem ich in Freiburg mein Alltagsbegleiter-Zertifikat in Händen halten sollte. … Und am Nachmittag, als ich nach Freiburg unterwegs war, hockte vor mir auf der Straße eine Tier, das ich nich nie gesehen hatte, und starrte mich an, bevor es ins Gebüsch schlüpfte und einen langen Schwanz sehen ließ. Es war fuchsähnlich, aber mit sehr langen Ohren, und am nächsten kam ihm der Löffelhund, der aber nur in Afrika vorkommt, in dessen Osten und Süden. Vermutlich gibt es eine ganz banale Erklärung, vielleicht aber auch war es ein irreales Tier, mein Totemtier, das mir Glück wünschen wollte …
Laye ist stolz auf seine Ausbildung. Doch der Direktor will ihm ermöglichen, nach Frankreich zu gehen, nach Argenteuil. Layes Mutter will davon nichts wissen; der Vater schweigt und stimmt zu. Es sei zu seinem Besten. Der Junge verspricht: Er werde zurückkommen.
Dann steht er im Flughafen und besteigt die Maschine nach Paris-Orly. Welche Abenteuer werden auf ihn warten! Er weiß noch nicht, wie er es schaffen soll, umzusteigen und nach Argenteuil zu kommen. Laye macht es sich nicht leicht. Wie schreibt er nach dem Tod des Freundes Check? Wir würden alle eines Tages diesen Weg gehen, und er sei auch nicht erschreckender als jener andere Weg, der des Lebens, der nur der »augenblickliche Weg unseres Exils« sei. Bedenken wir auch, dass die »Einweihungen« immer auch Neugeburten sind: Der alte Mensch stirbt und tritt wie neugeboren in einen neuen Umkreis mit andersartigen Pflichten ein. Auch Camara benützt öfter das Verb renaître: wiedergeboren werden. Schon in diesem Leben häuten wir uns viele Male − wie die Schlange.
Wie ging es mit ihm weiter? Auch hier tritt (wie kürzlich angedeutet) eine Brechung auf, eine Verschlingung der Zeitebenen. Was mit Laye Camara geschehen ist, wusste ich nicht. Wie ging es weiter? Was längst hinter ihm lag, lag in meiner unmittelbaren Zukunft. Ich konsultierte Wikipedia. Laye, 1928 geboren, ging 1947 als 19-Jähriger nach Argenteuil, wurde Automechaniker und begann, bei Simca zu arbeiten. 1953 erschien sein erster Roman L’enfant noir, im selben Jahr heiratete er (die im Buch erwähnte geliebte) Marie.
1956 kehrte er, wie versprochen, in sein Heimatland zurück und arbeitete im Informationsministerium von Diktator Sékou Touré, »dessen Gewaltherrschaft er in seinem Roman Dramouss (1966) anprangerte. 1963 emigrierte er nach Dakar, wo er (am 4. Februar) 1980 an einer Niereninfektion starb.« Dramouss will ich auch noch lesen und Le Regard du Roi (1954) sowie Le Maître de la Parole (1978). Zum Maître de la Parole, dem Meister des Worts, wurde er, Laye Camara, der einstmals kleine Junge von Kouroussa in Guinea.