Liebesgedichte von Tagore
100 Jahre nach dem Nobelpreis für Literatur hatte ich über Rabindranath Tagore geschrieben, und jetzt will ich ein paar seiner Liebesgedichte zu Gehör bringen. Der Inder war bis zu seinem Tod 1941 ein braver Botschafter des Subkontinents und der Literatur.
Schon das erste spricht mich persönlich an. Übersetzt wurden die Gedichte übrigens von Martin Kämpchen. Tagore bringt oft Humor ins Spiel der Liebe. Da will einer plötzlich keine Küsse mehr.
Der Gefangene
Weg, Freundin, nimm deine Arme weg, die mich umzingeln.
Deiner Küsse reichen Wein trink ich nicht mehr.
Die Luft in diesem Blütenkerker ist so drückend schwer.
Nimm weg, nimm weg die Last von meiner Seele.
Wo ist der grenzenlose Himmel, der Morgenröte Licht?
Diese pausenlosen Vollmondnächte – ich mag sie nicht!
Du willst mit deinen losen Haaren mich umschlingen ―
ausbrechen will ich – wie kann’s mir nur gelinen?
Mit deiner Hände aufgeregtem Suche, Tasten, Fassen
hast du mich tief in deine Falle sinken lassen.
Nachts blick ich ins Leere hinein
und finde das starre Lächeln des Mondes allein.
Ach, halte mich nicht fest. Freiheit ist mein Segen.
Erst mein erlöstes Herz kann ich zu deinen Füßen legen.
Unendliche Liebe
Dich hab ich, mir scheint, geliebt in vielen Gestalten so viele Male,
wieder und wieder in jedem Leben, wieder und wieder in jeder Epoche.
Ewige Zeiten hat mein betörtes Herz die Lieder zu Kränzen gewunden,
die du,Viel-Gestaltiger, als Gabe empfangen und um den Hals getragen hast,
wieder und wieder in jedem Leben, wieder und wieder in jeder Epoche.
Nachdem ich diese uralte Geschichte von den Qualen langwährender Liebe
immer wieder vernahm, diese Sage von Trennung und früher Verbindung,
und ich tief und tiefer in unendliche Vorzeit blickte, da erschien zuletzt,
wie das Licht des sich allerinnernden Polarsterns,
der das uranfängliche Dunkel durchdringt, dein Bild.
In der Strömung unserer gemeinsamen Liebe trieben wir,
entsprungen aus der Quelle anfangloser Zeit,
wir spielten inmitten hunderttausender Liebender unser Spiel der Liebe,
mit ihnen kosteten wir Tränen der Trennungsqual und den Honig
scheuer Verbindung. Uralt ist diese Liebe, die in stets neuer Verkleidung erscheint.
Heute hat sich diese ewigwährende Liebe in dir erfüllt
und ergießt sich zu deinen Füßen in neuen Schwällen.
Des Kosmos‘ Ergötzen, des Kosmos‘ Betrübnis, des Kosmos‘ tiefste Liebe
fließt ein in unserer einen Liebe, die aller Liebe Samen trägt,
und aller Zeiten, aller Dichter Lied.
So wie jeder Mensch ein Kosmos ist und in allem das Entstehen und Vergehen eines Sterns repräsentiert, ist in allen Liebesgeschichten die eine Geschichte verborgen; und doch mag es ein Wesen geben, das in allen unseren Verkörperungen auftritt, das uns bedeutsam ist, und einmal gelingt die Vereinigung, dann wieder nicht, es ist ein kosmisches Spiel, und immer nimmt diese andere Seele den ihr gebührenden Platz in uns ein. Dieses Sich-Verlieren und Sich-Finden, das aneinander Lernen gehört zum Plan. In ewigen Verwandluungen begrüßt / Uns des Gesangs geheime Macht hienieden, schrieb Novalis. In allen Gestalten tritt uns eine Gestalt entgegen – und in einer Gestalt alle. Wir sind Gäste, und das führt Tagore in einem weiteren Gedicht aus.
Gast
Meine Zeit des Exils hast du ausgefüllt, o Frau,
mit Nektar; wie schlicht hast du
dein eigen gemacht den fremden Wandrer,
so schlicht wie vom Abendhimmel mich
unbekannte Sterne stetug, milde lächelnd
willkommen geheißen. Als ich am Fenster stand,
allein dem südlichen Himmel betrachtend,
kamen aus der Höhe in mein Herz Harmonien
lichtvoller Worte; ich habe der Sterne
ernste Melodie gehört: »Dich kennen wir,
wir kennen dich. VomTag, als du aus dem Dunkel
zur Erde kamst, bist unser Gast du,
ewig unsres Lichtes Gast.«
Sterngleich blicktest auch du, gütige Frau,
mich an und sprachlos in jener Melodie: »Dich
kenn ich doch, ich kenne dich.«
Deine Sprache versteh ich nicht, Frau,
doch hörte ich deine Lieder:
»Der Dichter ist der Gast der Liebe ―
ein Leben lang mein Gast bist du.«
Das Erkennen. Sie erkannten sich im Fleische. Man kennt niemanden, bevor man nicht eng beieinanderliegt. Tagore hatte 1925 als 64-Jähriger in Buenos Aires Victoria Ocampo kennengelernt, an die er dieses Gedicht richtete. Er blieb, da er krank war, einige Wochen in deren Villa San Isidro. (Das Foto stammt von der Seite lecturas summergidas.)