Das 22. Mitglied
Ich habe meinen Schlüsselbund verloren und wiedergefunden. Eine verrückte Geschichte, die in Walenstadt am Walensee begann und in Flums endete; eine kleine Odyssee, die dank der Hilfsbereitschaft eines Vereinspräsidenten und einer Portion Glück ein gutes Ende fand. Hört sie euch an!
Am Schweizer Nationalfeiertag, dem 1. August, wollten Giovanna und ich zu einem Berg oberhalb von Walenstadt. Frohgemut begannen wir, doch dann tappten wir ungeahnt in die Falle: in die dicke Schlammschicht eines Erdrutsches, in die unsere Schuhe einsanken. Danach waren sie schlammüberzogen, und da wir Zeit verloren hatten, war der Berg in unendliche Ferne gerückt. Wir mussten zurück. Stiegen auf dem Fahrweg hinunter, ein Auto hielt an, die Beifahrerin bot uns an, uns mitzunehmen, und wir stimmten zu. Die Schuhe würden wieder sauber werden, sagte der Fahrer. Alles sah gut aus. Unten stiegen wir aus und bedankten uns. Der Wagen fuhr weg, ich betastete meine Hosentasche – und der Schlüsselbund war nicht mehr da. Er musste herausgefallen sein und lag nun in dem Auto, das sich entfernte. Shit.
Ein unglücklicher Tag! Doch ich hatte noch die Aufschrift „30 Jahre Schällnerclub Flumserberg“ auf der Heckscheibe des Kombis gelesen. Es war immerhin ein Hinweis. Wenn der Fahrer im Club Mitglied war, gab es Hoffnung, da der Club auch eine schöne Homepage hatte. Am Abend rief ich dessen Präsidenten an, Daniel Bless, und schilderte ihm die Lage. Er war erst misstrauisch, bot sich aber an, der Sache nachzugehen. Am nächsten Tag wollte ich ihn mittags wieder anrufen. Leider, sagte er, gebe es nichts Neues. Aber wir würden das schon herausfinden, tröstete er mich. Nur noch einer seiner 22 Mitglieder sei übrig, von dem man nicht wusste, was er am 1. August getan hatte. Später am Abend dürfe ich mich wieder melden. Um ehrlich zu sein: Ich glaubte nicht, dass er es schaffen würde; ich zweifelte.
Am Abend meldete Daniel Bless mir dann: »I han’s rausgefunde!« Ist ja nicht möglich. Das 22. Mitglied war es: Toni Wildhaber, der ein Sportgeschäft in Flums führe. Ich bekam die Telefonnummer. (Eigenartig nur: Alle Mitglieder sind mit Fotos und Namen abgebildet, aber der Genannte war nicht darunter. Sonst hätte ich ihn gewiss erkannt.) Am Donnerstag (3. August) wollte ich den Klausenpass fahren, und wenn ich den Zug über Walenstadt hinaus nähme bis nach Flums, könnte ich direkt ins Sportgeschäft fahren, dachte ich mir. (Giovanna hatte über Internet die Adresse herausgefunden.)
Um 8.49 Uhr hielt der Zug in Flums, ich radelte zum Geschäft, einem Intersport, der Mann hinter der Kasse trat auf mich zu, zögerte, und sagte dann: »Der Schlüssel!« Er holte ihn aus dem Keller. Er war am Nachmittag des 2. August von seinem Präsidenten angerufen worden, während er auf einem Berg wanderte; er durchsuchte die Rückbank seines Autos, wo die Schlüssel zwischen die Sitze gerutscht waren. Ist ja alles nicht zu fassen. Sie hätten dort noch jahrelang liegen können.
Ich schaute mir noch die Arbeiten Herrn Wildhabers an: Er bestickt breite schwarze Lederbänder, die mit Dachsfell umrahmt werden und als Halt für die Schällen (Glocken) dienen. Die Schällner tragen ein Joch über den Schultern und schlagen mit den Händen die Glocken an, die sie auf dem Rücken tragen. Die Last wiegt 30 Kilogramm. So verzieren zu Sechst oder zu Zehnt musikalisch kirchliche Feiern und Alpabtriebe und Marktveranstaltungen. Wie sich das anhört, hören wir hier: Es sind zunächst 22 Sekunden (es konnten nicht 21 oder 23 sein) der lauten Galgana-Schellner, woran sich die Musik von Vorarlberger Schellnern anschließt. In Appenzell tragen die Schellner (oder Schällner) nur eine Glocke auf dem Rücken. (Illustration: ein Werbeblatt von Wildhabers Unternehmen, etwas angeschlagen nach der Klausen-Fahrt)
Gegründet wurde der Verein 1987. (Er ist damit fünf Jahre älter als unser Veloclub in Rehtobel.) »Öppis z’schällne und z’fire gits immer!« war das Motto. Die Schällner vom Flumserberg bekennen sich zur Farbe Blau (zufällig auch meine Lieblingsfarbe). Es sind weihevolle Töne, die den Geist des Berglandes in sich tragen. Und der freundliche Präsident telefonierte wie wild herum, weil ihn ein Unbekannter mit Sorgen angesprochen hatte; so eine Hilfsbereitschaft gibt es also noch, ich war gerührt. Ich hatte meinen Schlüsselbund wieder. Es war kaum zu fassen.