Jenseitsreise zu Frau Holle
Wenn ich meiner Mutter im Heim ein Märchen der Gebrüder Grimm vorlese, bin ich oft verwundert. Ich merke, was drinsteckt und ich erst jetzt sehe. Frau Holle steckt voller religionsphilosophischer Gedanken; wir ordnen sie mal.
Die Mutter hat eine echte Tochter, die sie liebt, obwohl diese hässlich und faul ist. Die schöne und fleißige Tochter ist das Aschenputtel im Haus. Wie das Mädchen im Märchen von den drei goldenen Haaren muss es spinnen, was das Zeug hält, bis ihr die Finger bluten. Dann fällt ihr die Spule in den Brunnen. Das Mädchen ist verzweifelt und springt hinterdrein.
Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und viel tausend Blumen standen.
Wunderschön. Es ist eine Jenseits-Szenerie, die uns aus allen Kulturen vertraut ist. Carol Zaleski hat ein Buch darüber veröffentlicht und auch Carlo Ginzburg. Vor 200 Jahren – die beiden Märchenbände von Jacob und Wilhelm Grimm erschienen 1812/1815 – wusste man nichts von Nahtod-Erfahrungen. Sie wurden erst ab 1960 gemacht und popularisiert.
Damals gab es eher Geschichten von Leuten, die unversehens in der Anderen Welt landen, dort Aufgaben erfüllen müssen und letztlich wieder zurückdürfen. Manchmal, wie in der Geschichte um Rip van Winkle (1819 von Washington Irving veröffentlicht), sind für den Protagonisten in wenigen Tagen 20 Jahre vergangen, und als er zurückkommt, findet er sich nicht mehr zurecht.
Das schöne Mädchen kommt zu einem Backofen, in dem fertig gebackene Brote jammern und nach Freiheit verlangen; dann zu einem Baum, deren Äpfel geerntet werden wollen, und weil das Mädchen fleißig ist, aber auch ein gutes Herz hat, hilft es gern. Dann taucht Frau Holle auf, mit langen Zähnen, was an eine Hexe gemahnt. Aschenputtel muss auch hier arbeiten und der Frau das Bett machen; wenn die Federn fliegen, schneit es in der Welt. Doch das Mädchen hat Heimweh, warum auch immer.
Frau Holle lässt es durch ein Tor gehen, und ein Goldregen geht auf es nieder. Die Belohnung. Das Mädchen befand sich »oben auf der Welt, nicht weit von ihrer Mutter Haus«. Diese Ambivalenz macht stutzig. Das Mädchen war unten, und der Name Frau Holle erinnert an die Hölle, und schließlich scheint sie ja eine Hexe zu sein. Der Schnee fällt allerdings von oben und ist weiß, Zeichen der Unschuld.
Jene Jenseitswelt ist anstrengend wie die unsrige, aber sie ist auch ein möglicher Erlösungsraum. Man muss an die Durchgaben von Medien denken, die besagen: Hölle und Paradies sind nicht konkrete Plätze, sondern geistige Zustände. Es hängt alles von dir ab. Das hässliche Mädchen will auch hinunter, um reich zu werden. Dieselben Aufgaben sind zu erledigen, aber es ist faul und hartherzig, holt die Brote nicht heraus und erntete die Äpfel nicht, und das Bett zu machen hat sie auch wenig Lust.
Es hängt eben von deinem Bewusstsein ab, wo du landest. Das hässliche Mädchen wird von Pech überschüttet und kommt so zurück. Die Betonung lag auf dem Diesseits; Märchen dürfen ja irreal sein. Frau Holle sagt: Sei gut und fleißig, dann wirst du auch hier belohnt. Das Leben war ja hart damals.
In Wirklichkeit haben wir hier unsere Prüfungen abzuliefern und treten endgültig durch das Tor, und Gold oder Pech treffen uns dann. Das Jüngste Gericht der christlichen Religionen ist dein eigenes Gericht, jeder »richtet sich selbst«, das heißt: Nicht irgendwelche Taten entscheiden, sondern dein Denken, der Zustand deiner Seele, was du gewollt hast und woran du glaubst, das bestimmt über deinen Platz in der jenseitigen Welt, die in den unteren Regionen (der Astralwelt) übrigens der hiesigen sehr ähnlich ist. Was du säest, das erntest du, sagen die Spiritualisten.