Clarisse in Venedig

In einem frühen Entwurf, der in meinem Mann ohne Eigenschaften spät abgedruckt ist (Kapitel 122, S. 1554 bis 1557), ließ Robert Musil Clarisse – eine Nebenfigur des Romans – nach Venedig reisen, wo sie verrückt wird. Auszüge mit Schwarz-Weiß-Bildern eines begabten Fotografen.

Clarisse ist auf der Suche nach dem Griechen, nach Walter und Ulrich, die aber nicht in ihrem Zug nach München sind. Sie sieht sich in einem Spiegel bald als weiße Teufelin, bald als blutrote Madonna. Bis sie dann irgendein Umstand zur Annahme brachte, der Grieche sei in Venedig. Den Griechen hatte sie ungestüm erobert, und sie sagte ihm (was er mit verrückt, verrückt! kommentierte):

Gott selbst ist homosexuell … er fährt in den Gläubigen, er überwältigt ihn, erfüllt ihn, schwächt ihn, vergewaltigt ihn, behandelt ihn wie eine Frau und fordert von ihm Hingabe, während er die Frauen von der Kirche ausschließt.

Andersherumbetrachtet

Sie stieg in Venedig einer von Deutschen besuchten Pension ab.

Clarisse nahm außer Kaffee und Kognak keine Mahlzeiten zu sich, kleidete sich nackt aus und verriegelte sich in ihrem Zimmer, in welches sie auch die Bedienung nicht einließ. Der Hunger und noch irgendetwas, das sie nicht wahrzunehmen vermochte, versetzten sie in eine tagelange fieberähnliche Verwirrtheit, wovon die ungeduldige Geschlechtserregung allmählich zu einer vibrierenden Stimmung abklang, in die sich allerhand Sinnestäuschungen einmengten.

Abgehoben

In ihrer Pension baute sie ein Gerüst und begann, die Wände ihres Zimmers zu bemalen.

Was sie schuf, war verzerrt, war wirr gehäuft und doch arm, war zügellos und doch nur einem steifen Zwang gehorchend; äußerlich. Innerlich war es: zum erstenmal der Ausdruck ihres ganzen Wesens; ohne Absicht, ohne Überlegung, fast ohne Wille, unmittelbar etwas Zweites, Bleibendes, Größeres werdend, die Transsubstantiation des Menschen zu einem Stück Ewigkeit; endlich die Erfüllung von Clarissens Sehnsucht.

NightonEarth

Sie verschenkte ihr Geld und ihren Schmuck an lachende Gondelführer und hielt eine Rede auf dem Markusplatz. Ein Mann wolle ihr, sagte die empörte Padrona (sie hatte das bemalte Zimmer gesehen), »etwas zeigen«, Clarisse ging mit ihm.

ImJob

Clarisse ahnte die Falle, welche ihr der Beamte der öffentlichen Sicherheit stellte. Aber dieser Verdacht hatte keinen Wert für sie, sozusagen keine kausale Valenz. »Ich bin müde und krank«, sagte sie sich. »Er will mich ins Spital locken. Es ist unvernünftig von mir, dass ich folge. Aber mein Wahnsinn ist bloß, dass ich aus ihrer allgemeinen Ordnung herausfalle und meine Kausalität nicht die ihre ist: nur Störung in einer nebensächlichen von ihnen überschätzten Funktion.« … Als sie in das Haus eintrat, verzteilte sie den Rest ihres Schmuckes und ihr Tuch an die Wärterinnen, die ihn entgegennahmen, sie ergriffen und an ein Bett schnallten. Nun begann Clarisse zu weinen, und die Wärterinnen sagten »Poverett!«

 

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Titel der Fotografien (von oben nach unten):
Andersherum betrachtet
Abgehoben
NightonEarth
ImJob.

 

 

 

 

 

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