Das Unbewegte Begreifen
Der Lehrbrief von Takuan Sōhō (1573-1645) an Yagūo Tajima-No-Kami spricht von Zen und der Schwertkunst. Die sechs Bände, die Takuan hinterließ, hatten großen Einfluss in Japan. Die Schrift Vom Unbewegten Begreifen ist schwer zu begreifen, sagt uns Meister Suzuki, aber wir müssen es versuchen.
Sehen wir uns erst zwei Kampfszenen an: eine aus dem Film Tiger & Dragon von Ang Lee (2000) und den Kampf von Kiddo mit O Ren Ishi (Lucy Cliu) aus dem Film Kill Bill von Quentin Tarantino. In beiden Filmen (und danach in vielen anderen) sind die Kämpfe sorgfältig choreographiert wie Balletttänze. Takuan ist der Ahnherr dieser künstlerischen Begegnungen von Bewaffneten im Film. Das ist dort schön und elegant anzuschauen, doch es ist eine Ästhetik, der man den Inhalt geraubt hat.
Daisetz Teitaro Suzuki schrieb:
In Japan gilt … die ein technische Beherrschung einer Kunst als nicht hinreichend, um einen Mann wirklich zu ihrem Meister zu machen, sondern er muss zugleich tief in ihren Geist eingedrungen sein. Dieser Geist aber ist erst dann erfasst, wenn sein Herz in vollkommenem Einklang mit dem Prinzip des Lebens selber steht, das heißt, wenn er den geheimnisvollen Seelenzustand erreicht, der als ›Mushin‹ oder ›Nicht-Bewusstsein‹ bezeichnet wird. In der buddhistischen Ausdrucksweise heißt dies die Überwindung der Zweiheit von Leben und Tod. An diesem Punkt mündet eine jede Kunst in Zen.
Die Seele überlässt sich uneingeschränkt einer fremden Kraft (an die zu glauben die Voraussetzung ist). Sie handelt und bewegt sich, sie ist wie ein Blatt im Wind. Wenn der Gegner zum Streich gegen dich ausholt und du sein Schwert anstarrst, bist du unter dessen Bann. Sobald deine Aufmerksamkeit auf diese oder jene Weise gebunden ist, verlierst du die Meisterschaft: Dieses »Einhalten« muss überwunden werden.
Unbewegtes Begreifen ist das beweglichste Ding in der Welt: es ist bereit, in jede denkbare Richtung zu gehen, und hat doch keinen Einhaltepunkt. … ›Unbewegt‹ bedeutet ohne Aufregung sein, die Aufmerksamkeit nicht auf eine Stelle heften und sie dort einhalten lassen, sonst könnte sie sich nicht andern Stellen zuwenden, die ohne Unterlass aufeinander folgen.
Das ist es vermutlich, was mir im Februar in der Geschichte mit 15.38 gelang, geschildert hier. Handeln, ohne nachzudenken; kein Haarbreit zwischen Frage und Antwort, die unmittelbar wie der Blitz erfolgen soll; keine Überlegungen, keine Unterscheidungen. (Wenn wir sprechen, so urteilen und teilen wir, wir zerschneiden die Welt wie mit dem Schwert und sehen die Welt so, wie wir sie darstellen: in Freund und Feind, Nationalitäten, Gut und Böse. Urteile und Vergleiche sind meist so falsch wie jeder geschriebene Satz.) Alle wahren Künste fördern die Erfassung des ›Einen Herzens‹, das alles erfüllt, aber nirgends verhaftet bleibt.
Wer Jahre daran wendet, ist am Ende wieder rein, denn Erleuchtung gleicht der Unwissenheit. Nun hast du deine ursprüngliche Unbefangenheit wieder. Einfach ist das nicht. Wer nicht denken will, denkt trotzdem. Der höchste Grad der Vollendung ist erreicht,
sobald dein Herz sich nicht mehr darum bekümmert, wie der Gegner zu treffen ist, und doch das Schwert in der wirksamsten Weise zu führen weiß, wenn du ihm gegenüberstehst. Du streckst ihn einfach nieder und denkst nicht daran, dass du ein Schwert in der Hand hältst und dass einer vor dir steht. Da ist kein Gedanke an ich und Du mehr – alles ist Leere … ja sogar der Gedanke der Leere ist nicht mehr da. Aus solcher absoluten Leere entspringt die wunderbarste Entfaltung des Tuns.
Das heißt dann, in dem Wort von Shissai Chozan, kein Ich und keinen Gegner haben.