Elektrische Spannung im Club
Die neue elektronische Musik, die damals Techno oder House hieß, erlebte ich zum ersten Mal um 1989 in Hamburg, wo ich auch über Rockmusik schrieb. Vielleicht war ich einer der ersten, der berichtete, wie 1988 aus Ibiza der pochende Sound ohne Worte herüberkam und »Tanzwahn in die Klubs säte«, so ungefähr meine (blöde) Überschrift. Doch das war ein Stück für die Agentur dpa, und alle Zeitungen kriegten es, und so hatte ich schon etwas für die Verbreitung von Techno getan. Für das Buch recherchierte ich ein wenig in der Bibliothek der Freiburger Musikhochschule und las mich fest. Ich hatte es ja nur aus der Ferne beobachtet. Bis 1991 hatte ich es mit der konventionellen Rockmusik zu tun, mit Tina Turner, Phil Collins und Prince, und als ich dann ausstieg und die Agentur verließ, warf ich die ganze Musik mit über Bord. Nur das Schaffen von U2 erfolgte ich weiterhin, der Rest war weg, ich lebte für die Parapsychologie, für die Ufos und die Geister. Nun also das Stück aus Elektrosmog. Vor zwei Jahren, als ich an dem Buch dran war, habe ich das schon einmal dargestellt.
Elektrische Spannung im Club
Weiter zur Elektronik: 1935 baute Laurens Hammond seine erste Orgel, für die 99 Rädchen vor elektrischen Tonabnehmern rotierten. 91 verschiedene Frequenzen konnten zu 253 Millionen Tonkombinationen führen, was der US-Handelsbehörde indes nicht genügte: Sie untersagte dem Konstrukteur, zu behaupten, er könne mit seinem Gerät eine „unendliche Zahl von Tonvariationen“ erzeugen. 1939 kam der erste kommerziell produzierte Polyphon-Synthesizer auf den Markt, der „Novachord“, und 1941 verblüffte Don Leslie mit seinem „Vibratone“, einer Kombination aus Lautsprecher und Verstärker sowie mit zwei rotierenden Elementen, die Tremolos und Doppler-Effekte garantierten. Bis die Elektronik die populäre Musik vollständig eroberte, dauerte es aber.
Im „Summer of Love“ 1988 entstand auf Ibiza der tanzbare Musikstil Acid House, dessen prägnante Bässe ein Analogsynthesizer erzeugte, der Roland TB 303, der sich auch gut mit einem Drumcomputer kombinieren ließ. Das schwirrte, zirpte, brummte und pumpte, und Gesang war nicht nötig. Schon 1994 tanzten bei der Berliner Love Parade auf dem Kudamm 200.000 Raver zur Musik von 30 mit Soundsystemen bestückten Lastwagen. Heute gibt es zahlreiche Stile, die Techno, Piano House, Hip Hop, Detroit Techno, Getto House oder Trance heißen und in die Kategorie „Electro“ gepackt werden. Immer ist der Bass entscheidend, was der Unterschied zur Rockmusik ist, die wenig Bässe aufweist.
Techno war immer ein Weg zur Ekstase. Kurz vor zwei Uhr nachts, bevor der Club in Manchester schloss, spielte der DJ Laurent Garnier gern den Titel „Someday“ von CeCe Rogers. „Und ich kann euch als Tänzer versichern, dass in diesem Augenblick der ganze Club einen Gipfel des Vergnügens erreichte, der nahe am Orgasmus war. … Wenn alle notwendigen Parameter für die Entstehung der richtigen Chemie vorhanden sind, … entsteht eine elektrische Spannung. Ihre Intensität und ihre Entwicklung werden allein von den Vorgaben des DJs bestimmt. Die Musik wird zur Reise.“
Garnier bekräftigte: „Ich glaube, dass eine untergründige Verbindung den DJ und die Tänzer vereint, dass, wenn sie sich zusammenfinden, ein Energieaustausch stattfindet. … Zwischen ihnen und mir bestand eine Liebesbeziehung, die ich völlig beherrschte. Die Vibrationen solcher Nächte hinterlassen für immer Spuren in deinem Körper.“ Da herrsche eine Energie, die man mit Sprache nicht wiedergeben könne: „eine Vibration, welche die Tänzer ergreift und auf der Tanzfläche alles wegfegt; eine, die lebt, sich bewegt und atmet.“ Und diese Vibrationen sterben nie, meint der Diskjockey.
Es werden Erinnerungen im Körper erzeugt, die wieder hervorgeholt werden können, wie Dan Cohen mit seinem Projekt „Music & Memory“ bewies. Musik kann Erinnerungen „antriggern“ und Emotionen wecken. In dem Film „Alive Inside“ von Michael Rossato-Bennett (2014) sieht man vermeintlich hoffnungslos erloschene Demenzkranke wieder Emotionen äußern, wenn sie über Kopfhörer ihre persönliche Hitliste durchhören dürfen. Wie elektrisiert wirken sie, und sie singen mit, summen mit, dirigieren mit.
Die gemeinsame Ekstase hunderttausender Tänzer nährte vor zehn Jahren den Traum einer „House-Nation“ als „einigendes Banner für alle Clans der elektronischen Musik“, was aber, wie Jeff Mills meinte, ein DJ des Detroit-Techno, ein frommer Wunsch geblieben sei. „Heute machen die Leute Musik, ohne sich nur im Geringsten kreativ zu engagieren. Der Computer macht alles für sie. Das wird Techno umbringen.“
Eine enorme Masse an Musik wartet auf den Konsumenten. 1000 Dubstep-Tracks werden (2013) täglich auf soundCloud geladen, und last.fm hat 65 Millionen Songs im Repertoire. Ein Musikkritiker bräuchte mehrere Leben, um die Musik allein einer Woche anzuhören und zu rezensieren. Die Kanäle sind voll. Die Medien haben mehr als genug zu tun.