Parzivals Versäumnis

Ich habe neulich (am letzten Tag im Juni) ein Manuskript meinem Verleger geschickt. Hoffen wir, dass er damit zufrieden ist. Ende Mai strich er mir ein Drittel (zu Recht), und damit die Seiten nicht vergebens geschrieben sein mögen, teile ich Teile daraus mit euch. Sharing is caring!

Es ging um das Verpassen. Und hier erfahren wir die Geschichte um den berühmten Ritter Parzival.

Das berühmteste Versäumnis in der Literatur leistete sich Parzival. In dem gleichnamigen Epos von Wolfram von Eschenbach, vor 800 Jahren entstanden, erreicht der junge, naive Ritter ohne Mühe die Gralsburg. Das schon ist ein Wunder. Alle suchten immerfort den Heiligen Gral und fanden die berühmte Gralsburg nie, verpassten sie ständig. Sie hatten Tipps von Reisenden und Hinweise aus Büchern, ritten dann aber stets an dem Wald vorbei, der die Burg barg.

Der Gral, wie ich ihn sah: 2010 in einer Kirche in Rom

Der Gral, wie ich ihn sah: 2010 in einer Kirche in Rom

Parzival, der „reine Tor“, nimmt den richtigen Weg, trifft ein und tritt ein in die Burg. In allerhöchstem Luxus tafeln da Ritter, denen junge Frauen aufwarten, und der Gral – ein leuchtender Stein – wird vor dem Burgherrn Anfortas abgestellt, der krank zu sein scheint, und überhaupt wirken alle irgendwie traurig.

Parzival wundert sich, aber er „wahrte die Form und fragte nicht“. Gournemans, sein alter Lehrer, hatte ihm eingeschärft, nicht zu viele Fragen zu stellen. Daran hielt er sich, auch nachdem der Burgherr ihm das Schwert gereicht hat, das ihn angeblich verstümmelte. „Ein Unglück, dass er jetzt nicht fragte!“ kommentiert Wolfram, der Erzähler der Geschichte. »Noch heute leid ich dran – für ihn / Denn als man ihm das überreichte, / war dies ein Wink: er sollte fragen. / Der Burgherr tat mir gleichfalls leid, / weil er ein schweres Schicksal hat – / die Frage hätte ihn erlöst …«, lautet die Stelle in der Übersetzung von Dieter Kühn.

Am nächsten Tag ist die Gralsburg leer. Parzival kann sich noch anziehen, dann muss er verschwinden, wird ihm klargemacht. Was er verpasste – die Frage zu stellen, die Mitleid verriet – erfährt er durch die Zauberin Cundrie, die ihm vor den Rittern der Tafelrunde bittere Vorwürfe macht. Reue und Selbstvorwürfe quälen nunmehr Pazival. Er hat versagt. Bei Trevrizent, dem Einsiedler, erfährt er zudem, dass seine Mutter starb, weil er auf Abenteuersuche ging, und dass er mit dem Roten Ritter Ither einen Verwandten getötet hat. Und nun dieser dritte Schlag! Er gesteht seinen Fehler Trevrizent, der ihn  beschwört: »Du darfst nicht zu verzweifelt sein. Du solltest dich nur angemessen / grämen – dann das Grämen lassen. … Gott selber wird dich nicht verlassen ―/ mit Gottes Hilfe helf ich dir.«

Dann aber, nach fünf langen Jahren der Kämpfe, der Selbstanklagen und des Reifens, reitet wieder die Zauberin Cundrie herbei. Sie wirft sich ihm zu Füßen und bittet um Verzeihung. Sie verkündet: »Gepriesen sei dein hohes Los, / du Krone allen Menschenheils! / Von der Inschrift las man ab: / du sollst der Herr des Grales sein.« So stand es am Heiligen Gral, diesem Wunderstein. Nachricht von höherer Stelle! Parzival findet darum wiederum den Weg zur Burg. Dieses Mal macht er alles richtig: Er fragt den Gralskönig »Oheim, was quält dich so?« (oheim, waz wirret dir?) und erlöst ihn dadurch. Er wird selbst zum Gralskönig ernannt.

In den Star Wars sagt Meister Yoda (in Folge VIII): »Größter Lehrer Versagen ist.« Oder man erhebt sich über all dies und sagt wie der tibetische Lehrer Chögyam Trungpa, dass es für einen Krieger keine Niederlage und keine Fehler gibt. »Positiv und negativ sind beide der Pfad, sind zusammen das Muster. Jede negative Erfahrung ist der Vorbote positiver Erfahrungen, ja der Raum, in dem positive Erfahrung stattfindet. So ist das nun mal.«

Weitere Artikel über den Gral (aus der Kritischen Ausgabe +):
Die Nazis und der Gral
Der Gral und die Religion
Der Gral und die Literatur
Der Gral und seine Quellen

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