Rückzug

Rolf Hannes leiht mir immer wieder die neueste Ausgabe der Lettre international aus Berlin, dieser anspruchsvollen Kulturzeitschrift im DIN-A-3-Format. Ich greife ein paar Beiträge aus Heft 121 heraus, vor allem Der einsame Ruhm von Enrique Vila-Matas, der mich persönlich ansprach.

Darin macht sich der spanische Autor Gedanken über Künstler, die sich versteckten und zurückzogen. Thomas Bernhard nennt er, den österreichischen Autor, Glenn Gould, den kanadischen Pianisten, Franz Kafka, Julien Gracq, Montaigne und Descartes, Thelonius Monk und Miles Davis. Miles spielte in den letzten Jahren seines Lebens mit dem Rücken zum Publikum, Monk zog sich zurück und schrieb nichts mehr. »Die Zurückgezogenheit ist absolut unverzichtbar für die Schaffenskraft, Isolation ist der einzig sichere Weg zu menschlichem Glück«, sagte Gould.

Largo Armando Padelletti, Santa Marinella

Largo Armando Padelletti, Santa Marinella

Vila-Matas sagt:

Einzelgänger, von sich selbst Verlassene, Erforscher des zutiefst leeren Nichts, das hinter jedem mit Zuschauern vollbesetzten Parkett lauert, die Künstler, von denen DeLillo spricht, werden am Ende alle schrecklich scheu und sondern sich ab. … Sich zu verstecken war das Schicksal all dieser Anhänger des einsamen Ruhms, all dieser Künstler, die amEnde die radikale Abschottung brauchten, weil sie wussten, dass dies sie der allgemeinen Absurdität des Daseins näherbrachte und der Einsamkeit, die sie früher oder später in der Stunde des Todes ereilen würde.

Das ist mir sympathisch. Ich kenne das. Wenn ich in mein Pflegeheim fahre, trete ich auf, spiele ich eine Rolle, drehe auf, bin charmant, bin überall, lächle und werbe. Auch in meinen Arbeitsstellen war ich die Seele des Betriebs, was nicht überall gern gesehen wurde. Und dann versteckte ich mich wieder, las unendlich viele Bücher, rauchte und trank mein Bier, aber es ging nicht anders. Ich bin Wassermann mit Zwillings-Adzendent, der Wassermann ist immer ein Einsamer in der Menge und noch mehr, wenn er schreiben will.

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Ich bin derzeit gut drauf. Ich bin froh. Und wenn ich einmal nach Italien gehe, wird es nur sein, weil ich die Gegend hier zur Genüge kenne. Sich neu definieren. Es bedeutet keine Suche nach Erlösung; man nimmt sich mit, man lebt als der, der man ist, woanders genauso. Das Meer wird da sein, und es wird noch ein paar Überraschungen geben, die – wie Karl-Heinz Bohrer in einem anderen Lettre-Beitrag meint – heute selten geworden sind. Die Leute schauen nach draußen, da kommt nichts, und dann wählen sie eben Trump oder die AfD, dass sich irgendwas bewegt.

Freunde sehe ich auch gern, aber die echten, mit denen man sich bereichernd austauscht, wohnen weit weg. Weinfeste oder irgendwelche kulturellen Veranstaltungen müssen nicht sein, ich lese lieber ein Buch oder setze mich aufs Rad. Es ist nicht das Alter, sondern die Erkenntnis, dass einen die Darbietungen dieser satten, konservativen Gesellschaft anöden. Freiheit ist das höchste Gut — und so auch die Freiheit, sich auszuklinken und nicht verfügbar zu sein. Am liebsten würde ich meine Mails (4 bis 8 am Tag) nur am Mittwoch beantworten.

Bei Otranto

Bei Otranto

Die Lettre international ist 30 Jahre alt geworden, das ist ein Wunder, denn sie ist durchaus elitär und fast unerträglich philosophisch, aber sie hat auch lange Reportagen, die man nirgendwo sonst noch lesen kann, und das Lesen macht viel Freude, weil noch gut geschrieben wird. Manche Autoren übertreiben es mit der Eitelkeit, aber das gehört dazu.

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