Schweizer Geschichten
Wir wollen ja am 3. August wieder im Wallis sein. Am 1. August nichts über die Schweiz zu schreiben, geht einfach nicht; es ist der Nationalfeiertag (Gründung der Eidgenossenschaft 1291). Hängen wir das Thema an den Schweizer Geschichten von Urs Widmer auf.
Urs Widmer (1938-2014) mit seinen schön kurzen Romanen gehört zu den besten Schweizer Nachkriegsautoren. Neben Max Frisch (1911-1991) und Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) muss man noch Franz Hohler (geboren 1943), Otto F. Walter (1928-1994) und Peter Bichsel (geboren 1935) nennen, und ich hoffe, ich habe keinen bedeutenden vergessen. Autorinnen fallen mir gerade nicht ein.
Seine Schweizer Geschichten sind schon 40 Jahre alt, und damals lebte er in Frankfurt, wo er auch eine Weile Lektor bei Suhrkamp war. Den Umschlag ziert das Matterhorn; klar, das verbindet man mit der Schweiz wie die Schokolade, Heidi und das Schwingen. Das Matterhorn muss drauf, wird sich der Zürcher Diogenes-Verlag gesagt haben. Widmer war ja in der Literatur beschlagen, und ich denke mir, er hat Jean Paul und dessen Giannozzo gekannt , der mit einem Ballon dahinsegelt, manchmal landet ironisch die kleine Welt um 1800 dort unten beschreibt.
So beginnt Widmers Buch:
Die dicke Frau, der Pilot und ich gehen durch die riesengroße Halle des Flughafens von Frankfurt.
Dann besteigen sie ihren Ballon und fliegen zum Rhein. Sie landen in diversen Kantonen, und da erleben sie derbe Erotik, seltsame Sekten, Jäger und Liebesgeschichten, und da man nicht alles so streifen mag, gehe ich zum Wallis, auf Seite 100.
Es ist stickig heiß in dem Schlafsaal, in dem ein Mann mit einem Schnurrbart auf einer Pritsche kauert und die Nase an das eiskalte Fenster presst. Männer und Frauen schnarchen und schnüffeln. (…) Er sieht über sich die schimmernde Kuppe des Allalinhorns. Am Himmel stehen Sterne und ein halber Mond.
Sie wollen mit Bergführern am frühen Morgen hoch auf einen Gipfel. Dort zehn Minuten Pause, dann wieder hinunter. Der Führer hat noch eine Gruppe von Japanern zu führen. Urs Widmer erzählt so unterwegs auch die Geschichte der Erstbesteigung des 4478 Meter hohen Matterhorns durch Edward Whymper (1840-1911) im Jahr 1865.
Derek Walcott schrieb (20., White Egrets):
Mist and the spectral peak coming and going,
in the white rain gone completely, so that
at any second now it could start snowing —
the Matterhorn from my window in Zermatt.
Die Engländer machten aus den Alpen den playground of Europe und erstiegen einen Berg nach dem anderen. In einer Publikation für den Alpenverein habe ich auch darüber geschrieben. Die sieben Bergsteiger, unter ihnen Whymper, wollten 1865 schneller sein als eine französische Seilschaft. Nach dem Gipfelsieg aber stürzten vier seiner Kameraden ab; es soll ein schadhaftes Seil gewesen sein, das brach. Dann gab es das Gerücht, das Seil sei durchschnitten worden – angeblich durch Whymper, der sich retten wollte. Eine Untersuchung konnte das nicht bestätigen. Man sagt, mit der Besteigung des Matterhorns habe das Goldene Zeitalter des Alpinismus geendet. Dann hatte man alle durch.
Edward Whymper bestieg 1880 noch den 6310 Meter hohen Andenvulkan Chimborazo, bevor er vom Bergsteigen Abschied nahm, das die Massen immer noch fasziniert, aber durch den Massentourismus gelitten hat. Wer Geld hat, den bringt einer irgendwie immer hoch, wohin immer er oder sie will. Die Gipfel der begehrtesten Berge sind vermüllt.
Doch wer die Berge liebt, muss hinauf und kann nicht aufhören damit. Die Alpen sind weit und groß und hoch. Die Bergeinsamkeit gibt es noch. Vergangenes Jahr sind wir im August zum Monte Generoso im Tessin emporgestiegen, 1800 Meter, und wir trafen auf dem Weg keinen einzigen Menschen an.