Die Brücke Schinvat/Sirat

Hoch hinaus und ans Licht! Wir bleiben beim Jenseits-Thema und wenden uns den Bergen zu, wo ich mich gerade aufhalte: in Saas-Almagell wiederum. In der persischen und der islamischen Mythologie müssen die Seelen eine Brücke überqueren, um die himmlischen Bezirke zu erreichen. Gefährlich!

In Psalm 121 heißt es: »Ich hebe meine Augen empor zu den Bergen. Woher wird mir Hilfe kommen? Hilfe kommt mir vom Herrn, der Himmel und Erde erschaffen hat. Er lässt deinen Fuß nicht wanken, nimmer schläft dein Hüter.« Die Anrufung ist angebracht, wenn man den Erlebnisweg oberhalb von Saas-Almagell begeht. Da gibt es Treppen und Leitern, die einen nicht wankenden Fuß verlangen.

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In der persischen (mazdäischen) Mythologie, am besten von Meister Sohrawardî (1191 hingerichtet) dargestellt, gibt es den Berg Qàf, die »Mutter der Berge aller Welt«. Und dort, an den Felsen aus Smaragd, die sich vor dem Gläubigen erstrecken sowie vor der Schinvat-Brücke vollzieht sich in der mazdäischen Dramaturgie die Begegnung mit meiner Daênâ ― die archetypische Figur, die himmlische Person, die meiner irdischen Gestalt vorangeht. Meine Seele ist schön, wenn ich gut und gottesfürchtig gelebt habe. Ich darf sie in die Arme schließen. Der Berg Qàf kennzeichnet die Grenze der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, und der mystische Pilger wird nach vielen Dunkelheiten die smaragdnen Städte des Himmels erreichen.

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Bei Sonnenaufgang der dritten Nacht nach dem Tod wartet auf den Pilger die Brücke; er ist gerufen, über sein irdisches Wirken Bericht zu erstatten. Die Brücke erstreckt sich bis hin zu den Sternen, hin zu den unendlichen Lichtern. Im Islam heißt die Brücke Sirat. Da geht es härter zu, die Überwindung ist nicht garantiert.

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Im Totenbuch des Islam von Imam Abd ar-Rahim ibn Ahmad al-Qadi (1985) steht, der Prophet, der Friede sei mit ihm, habe gesagt:

Allah-ta’als erschuf eine Brücke über das Feuer, welche Sirat genannt wird. Sie ist auf der Oberfläche Jahannams gelegen und ist glitschig und tückisch. Sie hat sieben Bögen. Jeder dieser Brückenbögen ist dreitausend Jahre lang. Eintausend Jahre davon gehören dem Anstieg, eintausend Jahre dem ebenen Teil und eintausend Jahre dem Abstieg. Sie sit dünner als ein Haar und schärfer als ein Schwert und dunkler als die Nacht.

Auf dem ersten Bogen muss der Verstorbene über seinen Glauben Bericht erstatten, dann über das Gebet, über das Almosengeben, das Fasten, etwaige Pilgerreisen, die rituellen Waschungen und seine Pflichterfüllung gegenüber Eltern und Verwandten. »Wird er errettet, so überschreitet er die Brücke. Wenn nicht, wird er im Feuer vernichtet.«

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Die Brücke wird schwanken wie ein Schiff in einem ungestümen Sturn auf dem Meer. Die erste Abteilung wird schnell wie ein Blitz hinübergelangen. Die zweite Abteilung wird schnell wie der Wind eines Sturmes hinüberfahren, die dritte wie ein schneller Vogel, die vierte wie ein edles Pferd, die fünfte wie ein schnellfüßiger Mann, die sechste wie eine Kuh.

Der letzte Tote, der die Sirat überschreitet, wird 25.000 Jahre dieser Welt dazu gebraucht haben. Die, die gerettet werden, treten ins Paradies ein, wo steter blauer Himmel herrscht und die Engel des Paradieses auf sie warten. Es ist wohl der heilige Berg Qàf der Mazdäer, auf dem sie stehen.

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Fotos: Giovanna Braghetti

 

 

 

 

 

 

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