Der Fährmann

Bevor man nördlich von Mantua den Lagunensee von Comacchio erreicht, muss man über den Rhein. Der Reno ist zwar nur ein Flüsschen, heißt aber auf Italienisch wie sein großer Bruder. Brücke gibt es nicht; ein Fährmann fährt einen hinüber. Florian macht das. Sein weißer Hund heißt Maja, im Führerhaus hat er hinter sich eine Gitarre stehen.

Für den Hopser, der 30 Sekunden dauert, nimmt er 3 Euro vom Autofahrer und 1 Euro vom Radler. Guter Tarif; wenn im Sommer ein paar Leute den Rhein überqueren wollen, kommt er schon auf seine Kosten. Man denkt sich immer: Fährmann, wie doof, wie langweilig! Dabei vergisst man, dass viele Verkehrsmittel eigentlich Fähren sind, die hin und her fahren. Der Lokführer fährt von Lugano nach Mailand und acht Minuten später wieder zurück; der Pilot fliegt New York – Miami und zurück; oder: Münstertal – Bad Krozingen – Münstertal  (by train). Der Fährmann könnte auch eine Fährfrau sein, wie formulieren wir das geschlechtsneutral?

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Auf dem Fluss ist das Fahren und Übersetzen sinnlich und sinnkräftig. Von einem Ufer zum nächsten; es muss übergesetzt werden, sonst kommt der Reisende nicht weiter. Manchmal liegt jenseits des Flusses ein anderes Land, aber es ist immer eine Überfahrt, die sich einprägt. Übersetzen ist dann im übertragenen Sinn zur Verwandlung eines Textes in eine andere Sprache geworden; er wird transponiert, klingt völlig neu, bleibt aber  derselbe Text.

Handgezogene Fähre über den Rio Grande. Bild von Carol M. Highsmith, couresy by Library of Congress, Wash. D. C

Handgezogene Fähre über den Rio Grande. Bild von Carol M. Highsmith, couresy by Library of Congress, Wash. D. C

Ja, die Fähren über den Rhein bei Basel, über die Donau, die Fähren über alle Flüsse dieser Welt, da kann einem vieles einfallen. Der Fährmann Charon, der die Toten in der griechischen Mythologie über den Styx rudert, kommt einem in den Sinn; und natürlich Siddharta, der Held des gleichnamigen Romans von Hermann Hesse (1922). Es ist eines der wenigen Bücher, die Florian gelesen hat, wie er sagte.

Siddharta ist reich, sucht aber die Erleuchtung. Mit seinem Freund Govinda dringt er bis zu Buddha vor, kann sich aber nicht zu Askese entschließen. Er lernt die Kurtisane Kamala kennen, lebt und liebt in vollen Zügen, aber es befriedigt ihn nicht. Als er am Fluss seinem Leben ein Ende machen will, erhält er Weisung. Er schließt sich dem Fährmann Vasudeva an, der ihm bereits einmal prophezeit hatte, er werde dereinst zu ihm zurückkehren. Demütig nimmt er den Dienst an und hört wie Vasudeva auf den Fluss, der immer derselbe bleibt und in jedem Moment ein anderer ist.

Kamala kommt zurück, stirbt, schenkt aber noch einem Sohn – der Vater ist Siddharta – das Leben. Dieser Sohn will nichts vom Fluss wissen, er will in die Stadt. Das erinnert Siddharta an sein eigenes Leben; auch er hatte sich dem Vater widersetzt. Der nunmehrige Fährmann (er führt Vasudevas Arbeit fort) ist weise geworden. Die öde Arbeit Jahr für Jahr ist Dienst am Nächsten, erzieht zu Demut und Geduld.

Jede Arbeit hat ihre Routine, ihre Pflicht … im Gegensatz zur Kür, um zwei Begriffe aus dem Eiskunstlauf zu verwenden. In jeder Arbeit kann man Weisheit finden und die Erleuchtung erleben. Es hängt von deinem Bewusstsein ab.

 

 

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