Auf den Spuren meines Vaters
Kürzlich das Buch Auf den Spuren meines Vaters gelesen von Jamling Tenzing Norgay; am Heiligabend habe ich daraus zitiert. Die Bescherung war für meinen Vater immer wichtig, da zeigten ihm die Kunden, was seine Arbeit wert war. Heute (oder war es am 29.?) vor vielen Jahren, vor einem Dritteljahrhundert, ist er gestorben.
Ich dachte an ihn, als ich bei dem Sohn von Tenzing Norgay, des Erstbesteigers des Mount Everest (mit Sir Edmund Hillary; sie waren beide oben, wer zuerst, wissen wir nicht, es sind zwei Erstbesteiger), las:
Ich betete für die verstorbenen Bergsteiger um eine günstige Wiedergeburt, wobei ich auch an meinen Vater dachte. Dieser 14. Mai [1996] war der zehnte Jahrestag seiner Beerdigung. Ich dachte daran, wie sehr ich ihn vermisste und wie sehr ich wünschte, wir hätten mehr Zeit miteinander verbracht. … Gern hätte ich ihn jetzt neben mir gehabt, um von ihm etwas über die Nachwelt und das nächste Leben zu erfahren, mich von ihm leiten zu lassen und mit einer Hilfe den Übergang besser zu verstehen, den er bereits gemacht hatte und den nun die Bergsteiger vollzogen, für die wir beteten.
Sardar Tenzing Norgay wurde 1914 geboren. Sein Sohn Jamling kam 1966 zur Welt. Mein Vater starb viereinhalb Monate vor dem seinen. Von einem Foto auf der Fensterbank schaut er mich an. Ich bin nun älter, als er geworden ist und trinke gerade Augustiner-Bier (Lagerbier Hell) aus einem seiner Hackerbräu-Steingutkrüge. Serienrein bleiben, war sein Credo. Wie er fahre ich in regelmäßigen Abständen mit dem Auto zum Bierhändler und hole mir einen Kasten (oder zwei). Ich trage auch seinen Vornamen. (Rechts: 1984, im letzten Jahr seines Lebens.)
Ich hätte seine Steuerberaterkanzlei übernehmen können, aber es war nicht mein Weg. Er akzeptierte das. Ich mache andere Sachen. In der Kaaba in Mekka steht die Inschrift Der Sohn ist das Geheimnis des Vaters. Der Sohn tut, was der Vater nicht getan hat; er vervollkommnet den Vater.
Er war in den letzten Kriegstagen als junger Mann durch Granatsplitter verwundet worden, und ich schwierigen Wetterlagen konnte er kaum atmen. Als ihm in der Arbeit ein Fehler unterlaufen war, der viel Geld kostete, setzte sich ein Splitter in Bewegung und verursachte Krebs. Es ging ihm leidlich, doch er aß wenig. Als dann Ende 1985 meine Schwester und kurz darauf ich unsere ersten Arbeitsverträge unterschrieben, war er zufrieden, die Familie ging ihm über alles. Er ließ los, magerte ab, wollte aber noch den für ihn so wichtigen Heiligen Abend erleben.
Alle paar Jahre nur träume ich von ihm (dazu: Vaters Jenseits-Rätsel), und dieser Beitrag könnte ihn mal wieder dazu bewegen, sich zu melden. (Am 26. November plante ich diesen Beitrag ein. Am 5. Dezember mal ein kleiner Traum mit ihm, immerhin! Wir saßen in einem Auto, hinter uns zwei unbekannte Leute, ich auf dem Beifahrersitz, mein Vater am Steuer, mit schwarzem Hut. Rechts war ein Parkplatz, ich wies ihn darauf hin, aber nein, er fährt weiter und recht schwungvoll in eine andere Lücke. Ich lobe ihn: Hey, super, umarme ihn auch. Komisch: Wenn ein Traum meine Schöpfung ist, warum trifft er – mein Vater – dann eine eigene Entscheidung?)
Jamling stand dann im Mai 1996 mit acht anderen auf dem Gipfel des Chomolungma.
Noch eindringlicher als zuvor spürte ich die Anwesenheit meines Vaters. . Er boebachtete mch, ermutigte mich, unterstützte mich, war stolz auf mich.
Meiner auch? ― Jam, wie ihn alle nennen, schaut auf die Ruinen des Klosters Rongbuk und zu den Almweiden des tibetischen Kharta-Tals …
Dann drehte ich mich um und sah ihn ― meinen Vater.
Er stand direkt hinter mir an der Seite, wo Fels und Schnee aufeinander treffen. Er trug die Daunenjacke und die Wollsachen wie im Jahr 1953, die Sauerstoffmaske hatte er zur Seite und seine Schneebrille auf die Stirn geschoben. Er strahlte ― sah er mich an? Sah er mich hier stehen, triumphierend und erschöpft, wie er es gewesen war? Oder spürte nur ich seine Anwesenheit?
Ich musste mich einen Moment sammeln, bevor ich ihn ansprechen konnte. Dann sagte ich:
Für uns beide ist unser Traum wahr geworden.
Ich hörte, wie er klar und ruhig antwortete:
Jamling, du hättest nicht so weit zu gehen brauchen, du hättest nicht diesen Berg besteigen müssen, um bei mir zu sein und mit mir zu reden.
Dann sagte er, wie sehr er sich freue, dass einer seiner Söhne den Everest bestiegen habe. Er habe immer gewusst, wenn jemand es schaffen würde, dann ich.