Flugverkehr (78): Die Snap roll des Doppeldeckers

Manchmal werde ich an die Serie Flugverkehr erinnert. Ein halbes Jahr kein Beitrag dazu, und dann gleich zwei hintereinander! Mir war eine hübsche Geschichte in die Hände gefallen, die in dem Buch The Silent Puls von George Leonard (1979) steht, das die Suche nach dem perfekten Rhythmus zum Thema hat. In der Episode A Lone Biplane wird ein Flugzeug wichtig.   

Es ist ein Stearman-Doppeldecker von Boeing, der ab 1936 in 8500 Exemplaren gefertigt wurde. Nach dem Krieg hätte es Tausende davon gegeben, für ein Butterbrot hätte man eins kaufen können, sagt Bill, der Ex-Pilot und Autor, als er seiner neuen Freundin Mary, der Künstlerin, von der Snap roll erzählt. Ihre Liebesaffäre ist gerade am Kochen, sie wollen in die Achterbahn einsteigen, da überkommt Bill diese Erinnerung. Er erläutert, was bei der Snap roll mit Steuerknüppel und Seitenrudern zu tun sei. Dabei rotiert die Maschine um ihre Längsachse, ein gefährliches Manöver, da man erst die Strömung abreißen lassen muss. Mary begreift es nicht ganz, wie sollte sie auch? Bill spürt ein Prickeln im Nacken. Er ahnt, dass das, was er erzählt, etwas bedeutet, dem er nicht nahekommen kann.

Sie gehen in ihr Zimmer und lieben sich. Sie vergessen ihr Ego (oder überfliegen es) und sogar ihr Begehren und erreichen einen Zustand, »in dem es nur ein Gefühl der Existenz in fundamentaler und vibrierender Form gibt«. Transzendentale Erfahrungen bei der Sexualität kommen vor, Jenny Wade hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, das, weshalb auch immer, in der Universitätsbibliothek Freiburg nicht mehr aufzufinden ist. Vielleicht gestohlen worden.

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Bill und Mary kehren danach in die Alltagswelt zurück und unternehmen eine Wanderung am Strand. Nach zwei Meilen drehen sie wieder um, und dann sehen sie das Flugzeug. Es ist eine schwarze Stearman, direkt über ihnen, vielleicht 400 Meter, und sie fliegt hinaus aufs Meer, kehrt zurück und taucht, beschleunigend, tiefer, fliegt auf sie zu, schwankt und … dreht sich um ihre Längsachse. Die perfekte Snap roll. »Genau das wollte ich dir erklären«, ruft Bill aus. »Mein Gott, ist das seltsam!«

Noch eine Snap roll. Bill sieht alles glasklar, nur verändert sich etwas in seiner Verbindung mit der Welt. Etwas ist anders. Der Doppeldecker entfernt sich über Land, über die Berge. Bill sucht Erklärungen dafür, dass die Maschine just in diesem Moment ihm und Mary das zeigen wollte. Vielleicht war es eine Illusion, diese verrückte Koinzidenz. Es war doch real, das Flugzeug! Auch ein anderer Zeuge bestätigt es. Die Stearman sei aber blau gewesen, sagt er. Blau, die Farbe des Übernatürlichen.

Bill akzeptiert es. Er sagt ja dazu. Und dann ist alles seltam. Bill ist nicht mehr Handelnder oder Beobachter, er ist eher eine »leuchtende Gegenwart, ein Beobachter im Zentrum der Ereignisse«. Die Welt scheint stillzustehen. Und alles gelingt ihm, ein Wunder folgt auf das nächste, er trifft Mary zufällig mehrere Male, ein verschwundener Aufsatz liegt auf seinem Tisch, ein Parkplatz ist immer frei, der Stau löst sich immer auf, und Bill akzeptiert auch das: So ist es.

So sollte es sein. Er war zum Tao vorgedrungen. Doch, wie es eben ist, schreibt George Leonard, die Erfahrung wurde im Alltag zerrieben, Bill fühlte sich wieder alleine und getrennt von der Welt, wo er vorher im Stand der Gnade gewesen war (state of grace). Aber er hat verstanden. Hinter allem ist etwas verborgen, der Glanz der Zeit und der Formen spiegelt sich in jedem einfachen Objekt. Bill dachte noch oft an den Doppeldecker und seine Snap roll, er vergaß die Szene nie.

Zu Stand der Gnade fiel mir etwas ein. Anne Morrow Lindbergh erwähnte den Ausdruck in ihrem Buch Muscheln in meiner Hand (1955). Sie führte aus:

Ich wünsche – um es durch einen theologischen Begriff auszudrücken  −, »im Stand der Gnade« zu leben, soweit mir das überhaupt möglich ist. … Unter Gnade verstehe ich eine innere, im wesentlichen spirituelle Harmonie, die sich auch durch äußere Harmonie auszudrücken vermag. Vielleicht suche ich das, was Sokrates in seinem Gebet in PHAIDROS erflehte, wenn er sagt: »Lass den äußeren und den inneren Menschen eins werden.« Ich will einen Zustand der Gnade erreichen, aus dem heraus ich so sein und handeln kann, wie ich in der Vorstellung Gottes sein und handeln sollte.        

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