Fotografie im Kontext

Fotografie ist nicht selbsterklärend. Sie entfaltet wie alles ihren Charakter im Kontext. In Einzelfällen mag ein Foto mehr sagen als tausend Worte. Aber ein paar Worte braucht es manchmal, um Fotos zu erklären, die sonst stumm blieben oder missverstanden würden. Ein kurzer Exkurs über die Grenzen der Fotografie.

IMG_4978Ein paar Beispiele aus der Nuit de la Photo in La Chaux-de-Fonds. Im ABC sah man einsame Landschaft im Nebel mit einzeln stehenden Bäumen, von Vidmantas Minkstimas in Litauen fotografiert (The Loners) und untermalt von trauriger Musik (Max Richter). Das wirkte erst richtig durch die Information, dass dort je ein Baum stehenblieb, wo vorher eine Siedlung mit Menschen war, die von den Russen aufgelöst wurde.

Die Detailaufnahmen von Valentyn Odnavium aus der Ukraine (Surveillance) zeigten bizarr gefärbte Kreise, die nicht zu deuten gewesen wären, hätte man nicht gewusst, dass es sich um Gucklöcher in verschiedenen IMG_4960Gefängnissen handelte. Die Aufnahmen von Reza und Manoocher Deghati über Iran in den Jahren 1979 bis 1983 zeigen Fanatismus, Kampfbereitschaft und Bilder von Khomeini. Fotografie zeigt Emotionen und Dramatik, aber etwas über den Hintergrund zu wissen, hilft einem bei der Einordnung.

Die Anordnung der Fotos und die begleitende Musik schaffen ein eigenes Ambiente, die Fotos sind Spielmaterial einer Komposition, die mit Bedacht entstand. Sie hinterlässt eine Stimmung. Fotografie zeigt, was war, aber auch, dass das Fixierte nie fixiert bleibt.

Wie Texte werden Fotos auch im Spiegel des derzeitigen gesellschaftlichen Diskurses gesehen; sie können in zehn Jahren ganz anders wirken. Da könnte man (wie bei Texten) von einer Wirkung in die Vergangenheit hinein sprechen; nichts ist objektiv und ewig gültig, alles verhandelbar und schwebend.

004Auch der Fotograf und die Fotografin wollen natürlich Aufmerksamkeit und werden darum Motive wählen, die einem etwas sagen. Das ruft das Klischee auf den Plan, das Altbekannte wird wiederholt: Kuba ist Fidel, die Schweiz ist die Berge mit dem Tourismus. So wird das wiederholt, was wir ohnedies kennen, und weiter zementiert.

Die Konsumenten wollen Neues, aber natürlich auch das Altvertraute. So wird eine Serie leicht zu ihrer eigenen Parodie, wenn die running gags breit ausgespielt werden. Autorinnen und Autoren trauen sich nicht mehr viel, die Zuseher sollen nicht überfordert werden. Wenn sie die alten Motive nicht wiederfinden, wenden sie sich vielleicht ab. (Jedes Werk lässt sich an seinem Nachfolger messen und nur an diesem, meinte Harold Bloom einmal; der Nachfolger ist im Vorgänger bereits unsichtbar anwesend, auch hier eine Wirkung in die Vergangenheit.)

geistDie Werke der Nuit de la Photo waren meistenteils Reportagen oder Kurzfilme mit stehenden Bildern, sie waren nicht nur Aneinanderreihungen von Fotos. Wir haben Kunst erlebt, nicht Journalismus. Auch in der Presse werden Bilder natürlich manipulativ eingesetzt. Reportagen sind im Kontext ihres Mediums, ihrer Zeitperiode, ihrer Gesellschaft zu lesen. Nur das Subjektivste ist objektiv und immer gültig: der Roman, der Mythos, das Märchen. Bei der Fotografie ist nur das Objektiv objektiv, und auch nur so lange, so lange es nicht fotografiert.

 

 

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