Vom Verschwinden der DDR (4): Ausgesteuert
Die Tour de France ist im Gang. Vor über 50 Jahren, 1967, fuhr Dieter Wiedemann sie mit, kämpfte sich hinter Tom Simpson den Mont Ventoux hoch und schlug sich achtbar: 52. von 88, die das Ziel erreichten. Um Wiedemann geht es in dem Buch Das Rennen gegen die Stasi von Herbie Sykes aus dem Jahr 2015.
Es ist eine Geschichte über die DDR und deren widerwärtige Praktiken, und es ist eine traurige Geschichte. In einem ideologiegetränkten, fanatischen und gewaltbereiten Staat wie der DDR zu leben, war eine ausweglose Lage. Drin zu stecken war genauso schlimm wie rauszugehen: eine Lose-lose-Situation (to lose: verlieren). Entweder du arrangierst dich, machst mit, machst dich klein – dann wirst du leiden und dich dein Leben lang fragen, warum du dich nicht gewehrt hast. Was hätte dann werden können aus dir!
Oder du handelst und gehst weg – dann lädst du andere Schuld auf dich. Die Zurückgebliebenen tragen ein Kainsmal und werden geächtet. Die DDR kannte eine Art Sippenhaft, wie sie die Nazis praktizierten. Die Angehörigen eines Republikflüchtlings waren der letzte Dreck.
Dieter Wiedemann entschied sich dafür, zu gehen. Er war am 17. Juni 1941 in Flöha bei Chemnitz zur Welt gekommen, ein guter Radsportler geworden und hatte in der Friedensfahrt Erfolge gefeiert. Aber es gab Seilschaften und geheime Arrangements, Wiedemann kam nie richtig in die Spur. Bald hatte er die Nase voll.
Dann lernte er Sylvia aus Gießen kennen, und als er 23 Jahre alt war, blieb er nach einem Rennen im Westen. Das war 1964. Er heuerte in Schweinfurt beim Torpedo-Team an, bekam einen Job in der Fabrik, fuhr ein paar Rennen und 1967 die „Tour“. Dann wurde das Team aufgelöst, und er beendete mit 26 Jahren seine Karriere. Sein Familienleben war glücklich. Urlaube mit den Kindern, Auto, Häuschen. Dieter wunderte sich: keine Politik im öffentlichen Leben. In der DDR war alles Ideologie, Sozialismus hier und dort und überall. Alles wurde verfügt, im Westen musste man selbst entscheiden.
Doch der Weggang forderte einen hohen Preis. Die DDR hetzte gegen ihn. Sein Vater Karl wurde als Rennsportmechaniker entlassen, seine Mutter beging einen Selbstmordversuch (man wusste aber nie, ob das nur eine Finte der Stasi war), die Karriere seines Bruders Eberhard, eines begabten Fahrers, wurde torpediert. Er gab auf. Acht Jahre nach der »Flucht« gab es eine Amnestie, und Dieters Eltern konnten endlich ihre Enkelkinder sehen. Die Einreise mit den Schikanen der DDR-Grenzpolizei war schon qualvoll, und das Treffen mit den Eltern/Schwiegereltern dann »schrecklich«, wie Sylvia schrieb. An einem Abend kamen die ganzen Demütigungen hoch, die die Wiedemanns in Flöha zu erdulden gehabt hatten; warum hast du uns das angetan?
Die Eltern schickten andauernd Listen mit Waren, die sie wollten und hielten ihren Sohn für den reichen Wessi, was der nicht war. 1981 brauchten sie ein Medikament, das Dieter und Sylvia nicht besorgen konnten. Es kam zum Brauch, im Jahr 1981. Der Stasi war es also gelungen, die Familie zu zerlegen. Wie gesagt, eine traurige Geschichte.
Das Buch ist vollgestopft mit Verlautbarungen und Protokollen des DDR-Geheimdienstes. Die Späher saßen überall, man drang in Familiengeheimnisse ein und spitzelte, wo man konnte. Widerwärtige Praktiken. Wer da mitmachte, muss auch damit leben. Hätte sich ja auch wehren können. Doch der Druck war stark. Die DDR war ein Land wie ein Dampfkochtopf, das dann irgendwie unspektakulär innerlich verdampfte. Viele Einzelschicksale blieben auf dem Weg, und da ist noch Schuld, die zu tilgen es Generationen brauchen wird.