Alltagsbewältigung

»Der Alltag ist eine höchst anspruchsvolle Disziplin«, stellt Naïma schon auf der zweiten Seite des Romans Die Kunst zu verlieren von Alice Zeniter fest. Das wussten wir schon immer; nur gab es wichtigere Dinge. Heute ist der Alltag für die Jüngeren ebenso wichtig wie die »wichtigeren Dinge«, wenn nicht noch wichtiger.

Alltag ist ein Wort für den Schrottplatz. Ich habe ein Zertifikat als Alltagsbegleiter, aber ich begleite nicht den Alltag, sondern Seniorinnen und Senioren. Begleite ich sie durch deren Alltag? Auch nicht, denn der Alltag ist ja im Gegensatz zu den Ausnahmen zu sehen wie Urlaub und Feiertagen; aber durch alle Tage begleite ich sie schon, wenn ich Dienst habe. Also bin ich ein Seniorinnen-und-Senioren-durch-alle-Tage-Begleiter.

Das Leben ist eine anspruchsvolle Disziplin, ja, das schon. Und da meine ich mit Leben alles, was nicht Alltag ist; und mit Alltag meine ich den ganzen profanen Quatsch wie Kleidung, Essensgebräuche und andere Gewohnheiten, mit denen man den Tag zu füllen genötigt ist.

Man merkt, dass darauf heute viel Gewicht gelegt wird. Das ist bei mir zunächst ein Verdacht, gestützt aber zum Beispiel durch Fernsehmagazine und die Presse. Ist grüner Tee gesund? Schadet Sport kurz vor dem Zubettgehen? Wieviel Alkohol darf man trinken? Im Journalismus lernt man ja, auf die Bedürfnisse der Leser einzugehen, aber heute scheint Lebensbewältigung eine eigene Disziplin zu sein, und freilich werden auch Gefühlsdinge abgehandelt.

Doch am liebsten der Alltag. Es war schön, dass Peter Handke und andere in den 1970-er Jahren über das Leben normaler Menschen schrieben und den Alltag literaturfähig machten. Auf dieser Oberfläche wird heute philosophiert und geschwafelt, das interessiert jeden, denn jeder frühstückt und geht Joggen, und viele haben Hunde, über die man unendlich lange schwatzen kann.

Das können alle gerne machen, ich tue da nicht mit. Ich vermeide es sogar, außerhalb meiner Altenpflegeheime Menschen zu treffen, denn da verliert man nur Zeit. Viele Dinge soll man einfach beschweigen, sie lohnen Gedanken nicht. Man kann durch seine Tage gleiten wie in Trance, ohne jeden Handgriff dabei zu bedenken, und das größte Problem ist ja, dass bedacht wird, ob es richtig und gut ist, Frischkäse zum Frühstück zu essen oder drei Tassen Kaffee zu trinken.

Es gibt andere Dinge, über die man nachdenken kann mit der Frage, ob sie richtig und gut sind. Der Alltag ist da, doch sein Vollzug belanglos, da der Mensch mehr ist, und wenn er sich von Kleinkram  beherrschen lässt, verliert er seine Würde.

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