Vom Verschwinden der DDR (2): Entrissen

Unsere Serie vom Untergang des Nachbarstaates, immer am Neunten eines Monats, nicht vergessen! Katrin Behr wurde an einem Februartag des Jahres 1972 in Gera in Thüringen ihrer Mutter entrissen und ins Kinderheim gebracht. Die Mutter galt den Behörden als asozial und asozialistisch. Man enteignete sie: wie grausam.

So gehen diktatorische Systeme vor. Im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Ideologie, wurden rumänische Dörfer umgesiedelt, Millionen Chinesen umerzogen und Russen bestraft und in Lager gesteckt, Kambodschaner auf den killing fields ermordet. Es gab viele Millionen Todesopfer, und die Folgen betreffen auch die nachfolgenden Generationen. Wer nicht in die Vorstellungen der Ideologie passte, wurde ausgesondert und weggetan.

michimartichileKatrin Behr wurde zur Adoption freigegeben, als unnötig wurde die Zustimmung der Mutter erachtet, die im Gefängnis landete. Im Kinderheim herrscht eine Erzieherin sie an, sie solle nicht heulen, sie sei eine Heulsuse. Ein Paar holt das Kind ab, bringt es aber wieder, überfordert, zurück. Von ihrer Mutter hört Katrin erst wieder, als sie selbst deren Aufenthaltsort recherchiert, viele Jahre später. Über ihren Gefängnisaufenthalt spricht die Mutter nicht. Das Buch Entrissen, das Katrin Behr 2011 mit Peter Hartl geschrieben hat, bringt Beispiele von den Qualen und Drangsalen im DDR-Knast.

Einige ehemalige Häftlinge erzählten, wie sie zur Strafe in knietiefem Wasser stehen mussten, in dem Ratten schwammen. Andere wurden in einen Käfig aus Holzstäben von der Größe einer Hundehütte gesperrt und waren stundenlanger Berieselung mit Wasser ausgesetzt. Frauen bekamen Medikamente verabreicht, deren Folgen sie nicht absehen konnten. In der Häftlingshierarchie rangierten politische Gefangene noch unterhalb der Schwerverbrecher. Die Aufseher betrachteten sie als Abschaum, nicht als Menschen (S. 288)

Katrin machte als Kind ihrer Mutter stillschweigend Vorwürfe: Warum sie verschwunden sei? Die Großmutter meldete sich nicht mehr, Bruder Mirko verschwand. Endlich fand sich ein annehmbares Elternpaar: Mutter in der Partei, linientreu, einer Karriere auf der Spur und hart zu ihrer Adoptivtochter. Der Vater war nett, starb aber früh. War halt zu nett.

DSCN3148Das Mädchen findet seinen Platz, lernt Olaf kennen, Offizier bei der Nationalen Volksarmee mit Wohnung an der Ostsee. Sie heiraten, Katrin bekommt ein Kind und sitzt zu Hause rum, während ihr Mann zu geheimen Fortbildungen reist. Das alles endet im Herbst 1989.

Mit meinem derzeitigen Wissensstand erscheint es mir geradezu unfassbar, wie der Gärungsprozess in unserer Republik 1989 vollkommen unbemerkt an mir vorübergehen konnte und wie unbeteiligt ich an diesen Vorgängen war.

Dann eröffnet ihr Olaf, dass das mir dem nächsten Lehrgang sich erledigt habe: »Die Mauer ist auf.« Am Fernsehgerät sieht Katrin die feiernden Menschen, die hupenden Trabbis, die fröhlichen Westbewohner. Später dann: die Scheidung. Besuche bei den Behörden, um ihre Geschichte nachzuvollziehen. Sie lernt ihre Mutter kennen, die versöhnlich gestimmt ist, aber auch schwer krank.

Katrin gründet ein Internet-Portal für andere, die ihren Eltern entrissen wurden. Es heißt Zwangsadoptierte Kinder. Sie kommt bei ihrer Selbstfindung voran. Narben bleiben jedoch.

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