Buchwissen

Sonntagvormittag schauen wir im Altenpflegeheim immer den Gottesdienst um 9.30 Uhr an.  Schön sind die orthodoxen, da gefallen mir die Gesänge. Mitte Juni gab es einen evangelischen Gottesdienst.  Gott, was sind diese Pfarrerinnen und Pastoren begeistert! Als wäre man in eine Sekte geraten. Als stünden sie unter Drogen. Und dann reden sie so viel.

Im Katholizismus ist dafür alles streng und zeremoniös. Viele Formeln und Rituale. Und die Transsubstantiation: die heilige Wandlung, das große Mysterium. Mit seinen Worten vollzieht sie der Pfarrer.

DSCN4269Christentum, Judentum und Islam gelten ja als Religionen des Buches: Bibel und Koran. Christen, Juden und Moslems ist das Geschriebene heilig, denn für sie kommt es von höchster Stelle. Interpretieren darf man schon ein wenig, worin die Kabbalisten allerdings sehr weit gegangen sind: Sie warfen die Buchstaben auf abenteuerliche Weise durcheinander und spekulierten, dass es schon wieder schräg wirkt. Doch die Fixierung auf das Wort, das angeblich am Anfang war, prägt unsere Zivilisation, und Gott der Herr hat durch das Alphabet die Schöpfung erzeugt, sagt die Kabbala. Im Zohar treten die Buchstaben vor ihn hin, und jeder verlangt, mit ihm möge die Heilige Schrift beginnen. Da gibt es viele lange Gesichter, und den Zuschlag erhält das Beta: Bereshit bara elohim … So hebt sie an, die Bibel im Original. (Links: Buchstaben vom russisch Brot auf einem Borges-Text. Borges, der große Verrätsler!)

014Das Wort ist Fleisch geworden. Wer schreibt, hört das gern, doch wer lange schreibt und darüber nachdenkt, sieht die Mängel des Worts. Es steht so da, unverändert, und bedeutet dabei morgen womöglich etwas anderes als heute. Nicht umsonst heißt es, die schriftliche Tora sei nicht die wahre Tora; Moses habe vom Berg Sinai die mündliche Interpretation oder Deutung mitgenommen, ohne die das Geschriebene unvollständig sei. Und so schreiben und sprechen wir, unentwegt und unbeirrt, und viele tun es achtlos, die Sprache mit den Füßen tretend, sie als ein Mittel zum Zweck benutzend (mit den Füßen geschrieben, sagen die Italiener zu miserablen Texten). Soll ja nur dazu dienen, uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Dieser Utilitarismus verletzt die Magie, die immer noch in der Sprache steckt, aber längst vergessen ist. (Rechts: Ausstellung mit Büchern in der Luft in St. Gallen, 2016)

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Unsere Gedanken gerinnen ohnehin gleich in Sprache, die ein Medium ist und damit zwischen uns und der Welt (und Gott) steht. Sprache ist eine symbolische Form, sagte Ernst Cassirer. Sie sagt etwas, was man anders nicht sagen kann, ist aber nur ein Notbehelf, verwandt dem Mythos und der Kunst. Nimm sie nicht wörtlich! Die Wahrheit liegt woanders: in der Musik, in den Bildern, in den spontanen Hervorbringungen der Poesie und in allem, das unklar und zwiespältig ist. Der Urgrund der Welt ist unklar, sagt uns die Quantenphysik.

Poser 1909Der Buddhismus passt dazu. In ihm bleibt vieles paradox und unaufgelöst. Wirf dein Ich weg und sei still! Meditiere lieber, anstatt zu lesen, mahnte Paramahansa Yogananda. Sei hier in der Gegenwart. Lesen und Studieren kann freilich auch Meditation sein, aber man dürfte nichts fixieren wollen und müsste alles nur schwingen lassen. (Links: Illustration von Rolf Hannes)

Was hat uns unser ewiges Argumentieren gebracht? Die Wahrheit steckt in den Emotionen. Alle Kinder sind aus Liebe entstanden (der Geschlechtstrieb, freilich, wirkte mit; auch der Irrtum, sagte heute jemand, wie wahr!), das Licht mit seiner Energie belebte den Kosmos, und die Luft brauchen wir zum Atmen. Licht, Liebe und Luft! Es wird zuviel geredet. Man muss auch nicht intensiv beten. Die Energie ist da und fließt um uns her. Unsere Intention holt sie herab und herbei. Alles ist einfach.

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