Heile Welt

»Lieder, Land und Leute stehen im Mittelpunkt von ›Musik in den Bergen‹«, schreibt der Bayerische Rundfunk, und mit meiner Mutter habe ich es mir eines Samstagnachmittags die Folge vom 22. Juni angetan. Das Schlimmste war zu befürchten und trat auch ein, dennoch saß ich es heroisch aus, denn durchstehen musste ich es zum Glück nicht, ich saß ja, aber ausstehen konnte ich es auch nicht. Und ich dachte an Pasolini, der in vielem recht hatte.

Fernsehen sei ein unmoralisches Medium, meinte Pier Paolo Pasolini (1923-1975) in seinem Buch Fine dell’Avanguardia  von 1966. Es will eine audiovisuelle Technik sein und zeigt die Leute auf naturalistische Weise. Der einzige nicht naturalistische Eingriff sei ein wenig Zensur, doch eigentlich biete das Fernsehen Bilder aus dem Leben und der Ideologie des Kleinbürgertums. Es sei daher abstoßend. Nach einer Folge Musik in den Bergen stimmt man ihm bei. Von Kleinbürgertum kann man heute nicht mehr sprechen (alles ist derart verbürgerlicht, dass alles ohnedies eins ist), aber verlogen muss man die Veranstaltung schon nennen. Da wird gnadenlos eine heile Welt präsentiert, verziert von kommerzieller Volksmusik, bei der es einem den Magen umdreht. Meiner Mutter hat es gefallen; man muss schon dement sein, um solch eine Sendung zu lieben. Freilich, die Landschaft ist atemberaubend, die Wiesen sind grün, der See mystischblau.

walensee

 

Die Musiker stehen vor dem Wolfgangsee oder auf den Bergen und tun so, als spielten sie ihre Instrumente, aber alles kommt vom Band. Sonja Weissensteiner, die blonde Ankerfrau des Geschehens, hüpft inspiriert dahin, faselt vom »glücklichen Leben« der Familie Sowieso, besucht das Hotel Zum Weissen Rössl, einen Schalenschnitzer, ein Museum, hilft auf dem Bauernhof mit, und zwischendurch immer wieder eine Volksmusik, die auf unerbittliche Weise eine heile Welt vorspiegelt.

Früher gab es Samstagnachmittag die Wirtshausmusik beim Hirzinger, das war schön. Es gibt Volksmusik, die auch heute noch von zumeist jungen Menschen gemacht wird, die sie ironisch betrachten und neu erfinden, sie mit anderen Stilen mischen, was sie erneuert. Am 7. Juli am Abend sehen wir die 50. Folge, und am 18. August kommt die Wirtshausmusik schon wieder. Es gibt sie noch! Leisten wir also dem Bayerischen Fernsehen Abbitte.

Pasolini griff auch den Journlismus an, der instrumentalisiert sei und seine ihm genehmen Themen herauspicke, und er behauptete, die Kultur des Zentrums sei dabei, die »exzentrische« Kultur zu überrollen, womit er die Volkskultur an den Rändern meinte. Das Fernsehen und das Automobil zerstörten diese ursprüngliche Volkskultur, sagte Pier Paolo (habe ich hier schon erwähnt, in Dialekt auf dem Rückzug), und wenn er heute leben würde, fügte er hinzu: auch das Internet.  Die großen Apparate haben sich so breit gemacht, dass es breiter nicht mehr geht, und 50 Jahre nach Pasolinis Ende der Avantgarde ist alles so gekommen, wie er es prophezeite.

Wir erleben Verbürgerlichung im großen Stil, einen backlash in Richtung rechts und einen Konsumwahn, der durch Warnungen vor einem Klimakollaps kaum zu bremsen ist. Es geht munter in Richtung Untergang, und vielleicht steckt sie darin, die Anarchie, die gleichwohl noch irgendwo in reiner Form blüht, denn die Jugend ist aufsässig und suversiv wie eh, und das Spiel ist noch längst nicht verloren zu geben.

Illustration: der Walensee in der Schweiz

 

 

 

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