Der Geist der Rose

Vaslav Nijinski (1890-1951) wurde in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stürmisch bejubelt und verehrt. Er galt als der »Gott des Tanzes«, doch er, der 20-jährige Jüngling, gab darauf nichts. Er wollte sich immer nur perfektionieren und wollte mehr als der beste Tänzer der Welt sein. Er war gläubig und wollte Schönheit und Reinheit in die Welt tragen.

3b10884rRomola Nijinski, seine Frau, hat in der Biografie ihres Mannes unnachahmlich dargestellt, welcher Zauber von ihm ausging. 1911 führte das russische Ensemble vor Kaiser Wilhelm in Berlin auch das kleine choreografische Gedicht Spectre de la Rose von Théophile Gautier auf, das dann zu einem Glanzstück Nijinskis wurde. So schildert Romola die Handlung und das Auftreten des Tänzers:

Ein junges Mädchen ist von ihrem ersten Ball heimgekehrt, lehnt am Gartenfenster ihres Zimmers und erinnert sich träumend all der angenehmen Eindrücke des Abends. Sie denkt an den von ihr Verehrten und küsst langsam die Rose, die er ihr geschenkt hat … Von der Frühlingsluft und dem Duft der Rose berauscht, sinkt sie auf dem Stuhl in Schlaf. Plötzlich taucht im mondbeschienenen Fenster der Geist der Rose auf, eine unfassbare, traumhafte Erscheinung. Mit einem einzigen Sprung ist er hinter dem träumenden Mädchen, wie von einem sanften, zärtlichen Wind herbeigeweht. … Ein schlankes, geschlechtsloses Geschöpf, ätherisch, zart steht vor uns. Weder Blume noch menschliches Wesen. Beides … Etwas Unerreichbare ist es, etwas, das wir nur erfühlen können. Biegsam und schön wie eine sich entfaltende Rose, warm und schmiegsam, wie samtene Purpurblätter, sinnlich und rein zugleich. Mit unendlicher Zartheit steht er so … Dann wirbelt er in glorreicher Leichtigkeit durch den Raum. Es ist kein Tanz mehr und noch kein Traum. Alles wird rein, schön, leuchtend. Hier begegnen sich Realität und Vision. 

Mit einem einzigen Sprung überquert der Tänzer die ganze Bühne — und das konnte nur Nijinski zustande bringen. Man identifizierte ihn so mit diesem Sprung, dass er protestierte: Er sei Tänzer, kein Springer. Der Geist der Rose trägt das Mädchen zärtlich und liebevoll durch den Äther, »bietet ihr mit keuscher Geste die Essenz der Liebe«. Das Mädchen erinnert sich wieder, der Geist sinkt, sich unterwerfend, vor ihr nieder.

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Hier springt und fliegt die große Anna Pawlowa, die auch Nijinski schätzte. Sie starb 1931 mit 49 Jahren bei ihrer Abschiedstournee an einer Lungenentzündung.

Dann fliegt er mit einem unglaublich leichten Sprung, hoch in die Luft, umtanzt sie von neuem … Das Mädchen entschlummert wieder vertrauensvoll. Doch der Geist der Rose kann nur für eine Sekunde ans Herz gehalten werden. Nachdem er den Raum erobert hat, worin er schwebt, ist er nochmals, wie am Beginn, hinter dem Mädchen. Mit einem flüchtigen Kuss schenkt er ihr ein Stück des Unerreichbaren und entfliegt dann für immer in die Unendlichkeit.

Nur Nijinski konnte so hoch springen. Man kann sich die Szene lebhaft vorstellen. Alle drängten sich und warteten auf den Schlusssprung, und manche argwöhnten, es gäbe ein Sprungbrett auf der Bühne oder der Tänzer habe manipulierte Schuhe. Diese kleine Choreografie muss etwas Vollkommendes gewesen sein, die Menschen zum Weinen brachte.

Vaslav Nijinski selber erklärte einmal seiner Frau:

Ich wollte Schönheit ausdrücken, Reinheit, Liebe — vor allem Liebe, in ihrem göttlichen Sinn. Kunst, Liebe, Natur sind nur ein winziger Teil von Gottes Geist. Diesen Teil wollte ich einfangen und dem Publikum vermitteln, damit es erkennt, dass ER allgegenwärtig ist. Wenn es das empfand, habe ich IHN widergespiegelt.

Romola ergänzte, sie, die das Glück gehabt hättten, ihn zu sehen, seien »nicht nur Zeugen eines künstlerischen Ereignisses gewesen, sondern auch der Kommunion eines Eingeweihten mit der Gottheit«. Der Tänzer fiel dann in eine geistige Umnachtung und sprach nicht mehr. Erst 1945 löste sich die Blockade. Die ihn auf der Bühne sahen, vergaßen es nie.

 

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