Historischer Sex
Wie es der Zufall wollte, las ich im Anschluss an meine letzten Ausführungen (über Sex im Taoismus) das Kapitel übers alte China in dem Buch Sex in History (1989, erstmals 1973) von Reay Tannahill. Die Autorin, 1929 in Glasgow geboren (und 2007 in London gestorben), hat unglaublich viele Details zusammengetragen und verstand es auch, sie zu interpretieren und ein Gesamtbild zu liefern, und das alles würzte sie mit feinem britischem Humor. Überaus köstlich!
Erst etwa vor zehntausend Jahren vor unserer Zeitrechnung mag es dem Mann gedämmert haben, dass es sein Beitrag war, der zum Heranwachsen eines neuen Erdenbürgers führte. Es war weder der Storch noch ein Gott. Bis man aber begriff, dass schon weniger als ein Tropfen Sperma zur Empfängnis genügte, dauert es noch 11.000 Jahre. Frau Tannahill pflügt sich durch die Frühgeschichte und lässt uns dann in das Geschlechtsleben der alten Griechen und Griechinnen und der Bewohner der Welthauptstadt Rom blicken, bevor sie das frühmittelalterliche China behandelt. Und überall spielten die Frauen nur die Nebenrolle; seit dem Seßhaftwerden des Menschen hatten sie nichts mehr zu sagen, weder in Athen noch in Rom noch in China. Sie durften bloß Kinder gebären und den Haushalt führen; oder sie gingen der ältesten Beschäftigung der Geschichte nach.
Im alten Griechenland gab es auch die Männerliebe, Homosexualität, und durch Frau Tannahill habe ich gelernt, dass das homo in dem Wort für homos steht, auf Griechisch das Gleiche, und nicht für homo, den Mann. Es ist nie zu spät. Die griechische polis ging allmählich unter, und auch Rom verlor seinen Rang. Das Weltreich zerbröselte. Beide Reiche konnten sich nicht halten, weil es an der nötigen Menschenmasse fehlte. Für Rom schildert Frau Tannahill schön, wie angenehm man dort lebte. Die wohlhabende Frau pflegte sich und ließ sich Spezereien aus dem Orient kommen. Rom hatte bald ein Handelsbilanzdefizit mit dem Orient.
Die Geburtenrate ließ zu wünschen übrig. Heiße Bäder in den Thermen ließen die Testikel der Männer schrumpfen, der überreich genossene Alkohol tat ein Übriges, und alle litten an einer schleichenden Bleivergiftung. Die Grenzen waren nicht mehr zu verteidigen, und die Barbaren fielen ein. China frönte währenddessen dem Taoismus und hatte Spaß am Sex, dem fast übertrieben gehuldigt wurde.Der Kaiser hatte eine Frau, 3 erste Nebenfrauen, 27 Nebenfrauen zweiter Ordnung und 81 Konkubinen. Eunuchen passten auf sie auf, und eine Buchhalterin legte fest, wann der Kaiser welche Frau zu besuchen hatte. Armer Kaiser! Der »normale« besser gestellte Mann musste mit jeder seiner Konkubinen wenigstens alle fünf Nächte einmal schlafen, und gegen den Stress half ein Besuch in den grünen Gemächern, Bordellen, in denen man die ganze Nacht sang und sich vergnügte. Da gab es mehr als nur Sex.
Die hübscheren Mädchen wurden Huren, was den weniger Hübschen half, einen braven Mann zu finden. Leider kam das schöne Leben zu einem Ende; der Konfuzianismus kam mit Hierarchien, strengen Moralvorstellungen und Kontrollen, und unter dem Neo-Konfuzianismus zog echte Prüderie in China ein, die aber kaum schlimmer gewesen sein kann wie die 1500 Jahre lange moralische Überwachung des Westens durch die katholische Kirche und ihr Festhalten an Sex nur um der Fortpflanzung willen. Reay Tannahill ist Feministin; doch man muss nicht unbedingt Feminist sein, um zu sehen, dass die Frau seit 5000 Jahren unterdrückt wird. Zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert tat sich jedoch etwas: Die Beduinenliebe der Araber (platonische Liebe zu einer fernen Frau) griff nach Europa über, Troubadoure besangen adelige, unerreichbare Damen, und der Status der Frau verbesserte sich.
In Arabien waren die Frauen im Haus eingeschlossen oder im Harem. Im Westen nicht. Doch eine erreichbare Frau zwingt zum Handeln, das ist unbequem; also erfand man die Tugend. Frauen sollten schön und tugendhaft sein, die Latte war damit hoch gelegt. Frauen im Volk profitierten davon kaum, eher vom Aufkommen der Marienverehrung, gegen die sogar die Kirche machtlos war. Renaissance und 17. Jahrhundert, Sadismus und Masochismus, die Bordelle in aller Welt, die armen Haushälterinnen, geschwängert von ihren Gebietern, die Fabrikmädchen, die Prostituierten im Paris des 19. Jahrhunderts … Frau Tannahill lässt nichts aus. Die Verhütung wurde möglich, was ein gewaltiger Fortschritt war, und vor 100 Jahren (erst) durften Frauen nach gewaltigen Diskussionen endlich wählen. Gleich viel Gehalt in der Arbeit bekamen sie dennoch nicht.
In den 1960-er Jahren kam es zu einer sexuellen Revolution, und die Neuausgabe widmet sich auch Aids, das zum Glück nunmehr heilbar oder zumindest kontrollierbar ist. Was kann man zur heutigen Situation sagen? Wenig. Es wird heute eine Menge über Sexualität geschrieben und diskutiert. Reay Tannahill:
Es darf bemerkt werden, dass Epochen mit exzessiver Betonung von Sex oft mit Zeiten verbreiteter sozialer Ziellosigkeit (purposelessness) zusammenfallen. Es war so in den Goldenen Zeitaltern der meisten Zivilisationen — im kaiserlichen Rom, im indischen Gupta-Reich (319-543), in Chinas Tang-Dynastie (627-907) oder im Frankreich Ludwigs XV. —, und als es anscheinend keine neuen Welten mehr zu erobern gab, wuchs Sexualität zu übertriebener Bedeutung an: kein Fall von moralischer Gestörtheit, sondern von einer unausgewogenen Beschäftigungslage. Den meisten Menschen ist klar, dass Sex nicht alles ist — dennoch verhalten sie sich manchmal so, als wäre dies der Fall.