Timimoun

Dünne Bücher haben auch was für sich. 125 Seiten nur hat das Buch Timimoun von Rachid Boudjedra, aber was für Seiten! Die Sprache ist exquisites Französisch, der Schauplatz die Wüste Sahara, die der algerische Autor so einfallsreich beschreibt, wie man es sich von einem Araber erhofft. Ein Mann, 40 Jahre alt, lenkt einen alten Autobus mit Touristen durch die Wüste und ist verliebt in ein 20-jähriges Mädchen, eine Mitreisende. Nun wollen wir mehr wissen. 

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Wir wenden uns erst dem Autor zu, der 1941 in El-Beida geboren wurde und für den die deutsche Wikipedia nur 5 Zeilen Text übrig hat. Wikipedia listet zwei Dutzend Romane auf, und das jüngste Werk datiert aus dem Jahr 2003. Boudjedras ist jedoch nicht vor 16 Jahren verstummt; die Encyclopedia Britannica weiß von zwei weiteren Büchern des Algeriers, der auf Arabisch schreibt und seine Bücher selber ins Französische übersetzt: Les Figuiers de Barbarie (2010); Printemps (2014). Die Encyclopedia ergänzt dann noch Wikipedia: Seit 1990 schreibe Boudjedra wieder auf Französisch. Timimoun hat er 1994 also französisch geschrieben.

Mathematik hat er studiert, und Philosophie war sein Hauptfach. In Timimoun blickt der Erzähler auf sein chaotisches, für ihn verpfuschtes Leben zurück. Sein Vater war immer abwesend und kaufte seiner Frau die neuesten Nähmascinen-Modelle (»wie um sie vom Gedanken an Ehebruch abzulenken«) und schickte seiner Familie Postkarten mit Standard-Text. Der älteste Bruder verunglückte tödlich, wurde von einer Tram überfahren; aus Andeutungen erfährt man, dass es Selbstmord war. Der Vater, obwohl abwesend, gab sich possessiv und verbat dem Bruder den Umgang mit einer jungen Tänzerin, die nicht zur Familie gepasst hätte.

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Der Erzähler wird Jet-Pilot, vollführt die halsbrecherischsten Manöver und entführt auch mal ein Flugzeug und trinkt gern Wodka, manchmal eine Flasche, seltener zwei Flaschen am Tag. Man entlässt ihn als Pilot, also karrt er Touristen mit seinem Bus Extravagance durch die Wüste. Weil er die Sahara liebt und sich nicht sattsehen kann an deren Farben. Er weiß, dass er Trinker ist, hält sich zudem für hässlich, frigide und asexuell. Vor Frauen hat er Angst, außerdem interessieren sie ihn nicht … im Gegensatz zu seinem von ihm bewunderten, gut aussehenden Freund Kamel Raïs, dem Mathematiker, mit dem er früher unterwegs war in den Bars und Bordellen von Constantine.

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Bis sich der Pilot verliebt. Hinter ihm sitzt im Bus ein burschikoses wunderhübsches Mädchen mit kurzen Haaren und ausgebleichten Jeans und ewig gelangweiltem Gesichtsausdruck. So ungefähr blickt auch unser Jet- und Bus-Pilot in die Welt, noch dazu: mürrisch und desillusioniert, irgendwie lebensmüde. Dann fallen seine Blicke via Rückspiegel immer wieder auf Sarah, wie er sie nennt. Sie unternehmen viel gemeinsam, er ist hoffnungslos verliebt und eifersüchtig auf den jungen schwarzen Musiker, den sie abschleppt und mit in den Bus bringt.

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Auf der letzten der 125 Seiten kommt ihm die Erleuchtung. Sie weitet den Blick des Piloten und lässt ihn anders in die Welt schauen. Er hat sich verstanden; etwas wurde ihm klar, worauf der Autor geschickt auf den 100 Seiten zuvor angespielt, uns vorbereitet hatte. Plötzlich fällt dem Busfahrer und Touristenguide beim Blick in den Spiegel die frappante Ähnlichkeit von Sarah mit Kamel Raïs auf. Eine Bewusstwerdung. Nun kann ein neues Leben beginnen.

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