Nimm es, Giame!
Grazia Deledda aus Sardinien erhielt 1926 als zweite Frau (nach Selma Lagerlöf) den Literatur-Nobelpreis. Die Autodidaktin, die 1871 in Nuoro geboren wurde und 1936 in Rom starb, wurde von Literaturkritikern nicht immer nett behandelt. Das Volk aber las die Deledda gern, und ihre Weihnachtsgeschichte Lasciare o prendere? (Verzichten oder nehmen?) von 1912 ist kostbar.
Es ist eine kurze Erzählung. Giuseppe Demuros arbeitet seit fünf Jahren als Lehrer in dem Ort Dorgora auf Sardinien, wo die Kinder zur Schule aus den Höhlen niedersteigen, in denen ihre Familien leben — nicht unähnlich wie die Armen in Carlo Levis Buch Christus kam nur bis Eboli. Da glaubt man nicht, dass irgendetwas besser werden kann. Krankheit, Hunger und Entbehrung herrschen.
Für Giuseppe trifft ein Brief seines Vaters Giame ein, eines verarmten Adeligen: Seine treue Dienerin Munserrata sei gestorben, ihr Mann Pera kurz vor ihrem Tod heimgekehrt, und beide hätten so etwas wie zweite Flitterwochen verbracht; eine glückliche Munserrata sei gestorben. Nun wolle Pera nicht mehr weg und erledige allerlei Arbeiten für ihn. Er habe wohl einen satten Spargroschen, verrät Giame, denn mit anderen Banditen hätten sie sich des Kirchenschatzes von San Michele bemächtigt, der von einem Offizier zum König transportiert werden sollte. Pero sei als einziger von ihnen übriggeblieben.
Es war nicht lange bis Weihnachten, also machte sich Giuseppe auf den Weg, fuhr in der Kutsche bis Nuoro, bestaunte die Kathedrale, und außerhalb der Stadt streckten sich die weißen Häuser hin, da war die Piazza seines Heimatorts und dort oben, das Tal überblickend, das Wohnhaus von don Giame. Er findet ins Zimmer zu Pera, der todkrank ist und vernehmlich sagt:
Giame, mein Sohn, ich sag dir, es ist so! Nimm dir das Geld, es gehört dir, dir! Wem soll ich es sonst hinterlassen? Der Kirche? Die Pfaffen kann ich nicht riechen … Verwandte habe ich nicht. Meinen Brüdern in Christo? Alle haben sie mich verraten und angespuckt wie Christus. Du als einziger, obwohl adelig, hast mich in deinem Haus aufgenommen. … Nimm es, oder ich werde wütend.
Und noch einmal sagt er es, röchelnd. Nimm es! Giuseppe fragt seinen Vater, warum er Pera aufgenommen habe? Sein Vater ist enttäuscht. Und du willst Sozialist sein? Giuseppe war eigentlich angereist, um seinen Vater zu überreden, die Erbschaft anzutreten. Erst einmal trat die Hälfte der Bauern unten auf der Piazza an und drang ins Haus ein, behauptend, sie seien alle Verwandte Peras. Giame jagte sie fort. Unterdessen war Pera an seiner Lungenentzündung gestorben. Weihnachten feiern wir trotzdem, sagte der Vater; und Giuseppe war traurig. Der Tod des Alten hatte ihn mitgenommen, und für ihn gab’s eigentlich keine Feiern, das Leben war ein einziger Fasttag statt ein Festtag. Das Geld ist der Flügel der Menschen. dachte er bei sich.
Es war der Vorabend von Weihnachten, und das Wetter hielt sich weiter schön, kalt und strahlend; durch die Fensterchen ohne Glas erschien die große Landschaft der grünen Täler, abgeschlossen vom Profil der weißen und violetten Berge, rein und voller Licht; Geräusche vibrierten wie Schläge auf Kristall, und alles war durchsichtig und harmonisch. Man bekam Lust, den Flug anzutreten über die schöne und große Welt wie die Adler, die nach dem Sonnununtergang über das Dorf flogen.
Don Giame bereitet das Abendessen vor. Ein Schälchen mit Fleisch, Oliven und Brot nebst einem Gläschen Wein stellt er beiseite, in die kleine Küche nebenan. »Für die Seelen«, erklärt er, Munserrata hätte ihm das ans Herz gelegt. »Bestimmt, weil sie erscheinen wird, vielleicht sogar begleitet von Pera, so Gott will.« Nach der Messe könnten sie zusammen essen. Giuseppe folgt seinem Vater in die ärmliche Kirche, wird aber von Jugendlichen weggerisssen und in ein Haus gebracht, wo man tanzt und trinkt. Da sitzt er dann auf einer schmutzigen Bank und denkt, sein Vater werde ihn vermissen; alleine beim Abendessen müsse Giame sich fühlen wie in der Gesellschaft von Toten. Und schon sagte ihm eine innere Stimme:
Los, geh zu deinem Vater. In der Weihnachtsnacht tun das alle Söhne, auch die entfernt lebenden und die perversen. Sogar die Toten kommen zurück … Und du nicht?
Nein, er nicht. Er bleibt sitzen, Stunde um Stunde, während die Satten und Betrunkenen an den Tischen einschlafen und die Hähne krähen. Er betritt danach die Küche, in der alles in schönster Ordnung ist. Sogar ein Lichtlein glimmt noch. Plötzlich tut es ihm leid, dass er seinen Vater allein gelassen hat. Wie dumm und lächerlich das doch war, Stunden in einem fremden Haus zu sitzen! Er nimmt ein Licht und öffnet die Tür zur Nebenküche, und ein kühler Lufthauch trifft ihn, und durch eine offene Tür zum Hof sieht er einen Viertelmond. Auf dem Tisch steht ein leerer Korb. Giuseppe denkt an seine Kindheit, als ihm das samtene Kästchen von Munserrata auffällt, das neben dem Korb steht.
Er entfernt die Bänder und hebt den Deckel. Ja. Das muss der Schatz von Pera sein. Giuseppe begreift sofort, dass ihn sein Vater dorthin getan hatte. Um ihn glauben zu machen, die Toten hätten ihn hertransportiert? Um sich über ihn lustig zu machen? Da kommt ihm die Frage: nehmen oder stehenlassen? Das Geschenk seines Vaters.
Er blieb einen Moment lang gebeugt, während die Kerze Wachstropfen absonderte, die sich auf den Goldstücken wie Perlen kristallisierten, und schließlich stammelte er wie ein Kind: »nehmen …«, und es schien ihm, als stehe er über den Rand eines Brunnens gebeugt, auf dessen Grund die Sonne leuchtete …